Leitsatz (amtlich)
1. Der Träger eines Alten- und Pflegeheims hat Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Heimbewohnerin, deren Verletzung zu einem Schadensersatzanspruch führt.
2. Die Pflichten des Pflegepersonals in Alten- und Pflegeheimen ergeben sich vorrangig aus dem Heimvertrag und dem HeimG. Sie sind, wenn nichts anderes vereinbart ist, auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen begrenzt, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind.
3. Dass ein Sturz eines Heimbewohners im Bereich des Heims auf eine Pflichtverletzung des Heimträgers oder Pflegepersonals zurückzuführen ist, muss grundsätzlich der Geschädigte beweisen bzw. dessen Versicherer, auf den eventuelle Schadensersatzansprüche übergegangen sind.
4. Soweit sich der Unfall bei einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme ereignet hat, die in den voll beherrschbaren Gefahrenbereich des Pflegeheimträgers fiel, können Beweiserleichterungen zugunsten des Geschädigten bis hin zu einer Beweislastumkehr eingreifen. Das kommt in Betracht, wenn der Heimbewohner eine Maßnahme ohne eine eigenverantwortliche Mitwirkungsmöglichkeit lediglich passiv erdulden muss.
Entscheidend ist insoweit nicht, dass sich der Unfall im Gefahrenbereich des Pflegeheimträgers ereignet hat, sondern vielmehr, dass diesen in einer konkreten Gefahrensituation eine gesteigerte, erfolgsbezogene Obhutspflicht traf.
5. Wenn die gesteigerte, erfolgsbezogene Obhutspflicht darauf gerichtet ist, den Heimbewohner bei dessen Tätigkeiten vor einem Unfall zu schützen und es dennoch zu einem Schaden kommt, kann eine Beweiserleichterung unterhalb der Schwelle der Beweislastumkehr in Form des Anscheinsbeweises eingreifen.
6. Beweiserleichterungen ergeben sich für den Geschädigten auch daraus, dass der Pflegeheimträger zu einer Dokumentation der Pflegeleistungen verpflichtet ist.
Die Dokumentation muss zumindest für einen Sachverständigen erkennen lassen, dass die vertraglich geschuldeten Pflegeleistungen entsprechend der Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit des Heimbewohners erbracht und zusätzlich für erforderlich gehaltene Leistungen trotz eines klaren Hinweises an den richtigen Adressaten nicht vereinbart worden sind.
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 17.11.2004; Aktenzeichen 16 O 389/04) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17.11.2004 verkündete Urteil der 16. Zivilkammer des LG Münster abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.336,06 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.6.2003 zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht wegen Verletzungen geltend, die ihre Versicherungsnehmerin, die am 17.7.1920 geborene Frau Charlotte W., am 21.1.2003 bei einem Sturz in dem von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheim in N. erlitten hat.
1999 wurde im Rahmen einer Untersuchung zur Pflegebedürftigkeit bei Frau W. u.a. eine Minderung der Hirnleistungsfähigkeit bei einer Alzheimerdemenz festgestellt. Seit Anfang 2001 befand sie sich in dem von der Beklagten betriebenen Heim. Wegen der von der Beklagten geschuldeten Leistungen wird auf den Heimvertrag vom 2.2.2001 (Bl. 273 - 285) Bezug genommen. Anfang 2003 wurde sie in der Pflegestufe II eingruppiert. Vom 13.10. bis zum 25.10.2002 wurde sie wegen des Verdachts auf einen zerebralen Krampfanfall in einem Krankenhaus stationär behandelt.
Nach ihrer Rückkehr in das Pflegeheim wurde sie am 9.1.2003 erneut vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (nachfolgend MDK) untersucht. Die Gutachterin, die Pflegefachkraft O., bejahte in dem Gutachten vom 10.1.2003 die Voraussetzungen der Pflegestufe II und die Erforderlichkeit einer vollstationären Pflege.
Nach den Angaben des Pflegedienstleiters T. der Beklagten zur Betreuungssituation konnte Frau W. nicht mehr stehen und gehen, Aufforderungen konnte sie nicht umsetzen. Transfers vom Bett auf den Rollstuhl konnten nur durch zwei Pflegepersonen zeitgleich durchgeführt werden.
Die Gutachterin bestätigte in ihrem Gutachten einen entsprechenden Hilfebedarf der Frau W., da deren Aufrichten zum Stehen auch in ihrer Gegenwart den Einsatz von 2 Pflegepersonen erforderte. Sie musste gestützt werden und konnte nicht selbständig stehen; Aufforderungen zum Gehen setzte sie nicht um. Die Gutachterin diagnostizierte bei Frau W. Störungen eines zielgerichteten Handelns, der zeitlichen, örtlichen und situativen Orientierung aufgrund demenzieller Entwicklung, ein Parkinsonsyndrom sowie Harn- und Stuhlinkontinenz. Mit einer stufenrelevanten Verringerung des Hilfebedarfs sei auf Grund dieser Befunde nicht zurechnen.
Nachdem Frau W. am Abend des 21.1.2003 in Begleitung der Altenpflegehelferin Te., einer Mitarbeiterin der Beklagten, die Toilette benutzt hatte, anschließend von jener gewaschen und mit einer Windel ...