Leitsatz (amtlich)
1. Ein Auffahrunfall ist für den Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs im Einzelfall vermeidbar, wenn ein "Idealfahrer" bei gehaltener Rückschau das zu schnell herannahende und später auffahrende Fahrzeug erkannt und dessen Fahrer durch konsequentes Halten der Fahrspur ein Ausweichen ermöglicht hätte.
2. Ein Verstoß des Fahrers des vorausfahrenden Fahrzeugs gegen das Gebot nach § 1 Abs. 2 StVO, den nachfolgenden Verkehr nicht zu gefährden, steht damit indes nicht fest.
3. Die Behauptung eines Rechtsüberholvorgangs, der zu einem Auffahrunfall geführt haben soll, kann im Einzelfall auch bei offenem technischem Sachverständigengutachten durch die Angaben der vermeintlichen Rechtsüberholerin und ihres Ehemannes widerlegt werden. Es kommt damit ein Verstoß des Auffahrenden gegen das Abstandsgebot gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO in Betracht.
Normenkette
StVO § 4 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LG Dortmund (Aktenzeichen 21 O 312/19) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 04.05.2020 verkündete Urteil des Einzelrichters der 21. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 4.481,99 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 04.09.2019 zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 492,54 EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 20 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 80 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 40 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 60 %.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1, 544 Abs. 2 ZPO abgesehen.
B. Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet.
I. Der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG besteht nur in Höhe von 4.481,99 EUR. Denn die Beklagten haften für den aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall unstreitig in Höhe von 5.602,49 EUR entstandenen Schaden der Klägerin nicht in vollem Umfang, sondern lediglich zu einer Quote von 80 %.
1. Der Unfall, bei dem das Fahrzeug der Klägerin beschädigt wurde, hat sich gemäß § 7 Abs. 1 StVG beim Betrieb des von dem Beklagten zu 2) gehaltenen und zum Unfallzeitpunkt von ihm auch gefahrenen Pkw, der bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversichert ist, ereignet. Höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor.
2. Wird der Schaden - wie vorliegend - durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht, so hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie deren Umfang gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die hiernach gebotene Abwägung der Verursachungsbeiträge führt zu einer Haftung der Beklagten zu einer Quote von 80 %.
a) Nach den gemäß § 529 Abs. 1 ZPO der Entscheidung zugrunde zu legenden Feststellungen stellt sich der Unfall für keinen der Beteiligten als ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG dar.
Unabwendbar in diesem Sinne ist nur ein Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Der Fahrer muss sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben. Hierzu gehört ein Fahrverhalten, das in der konkreten Verkehrssituation alle möglichen Gefahrmomente sowie auch fremde Fahrfehler in Rechnung stellt und berücksichtigt. Notwendig ist eine über den gewöhnlichen Fahrerdurchschnitt erheblich hinausgehende Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Umsicht und ein über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinausreichendes geistesgegenwärtiges und sachgemäßes Handeln. Ein "Idealfahrer" hält nicht nur alle Verkehrsvorschriften ein. Er stellt seine Fahrweise vielmehr auch von vornherein darauf ein, Gefahrsituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines unabwendbaren Ereignisses trägt jeweils die Partei, die sich darauf beruft (vgl. zum Ganzen etwa BeckOGK/Walter, § 17 StVG Rn. 14 f u. Rn. 26; Senat, Urteil vom 03.06.2016, Az.: 7 U 14/16, juris - Rn. 23, jeweils m.w.N.).
Die Beklagten machen für sich eine Unabwendbarkeit des Unfallereignisses in der Berufungsinstanz bereits nicht mehr geltend, sondern akzeptieren ihrerseits eine Haftung zu 50 %.
Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil, an deren Vollständigkeit und Richtigkeit insoweit keine Zweifel bestehen, war der Unfall aber auch für den Fahrer des Klägerfahrzeugs nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Wie der Sachverständige A bereits in erster Instanz ausgeführt hat, kann nämlich auch bei Unt...