Leitsatz (amtlich)

›1. Bleibt bei einem Unfall zwischen Radfahrerin und einem sie überholenden Lkw offen, ob der Lkw einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten hat, ist die Schmerzensgeldklage gegen den Lkw-Führer abzuweisen, weil ein schuldhafter Verkehrsverstoß nicht feststeht. Weil in diesem Falle aber andererseits auch nicht feststeht, daß der Lkw-Führer sich verkehrsgerecht verhalten hat, ist der (allein) mitverklagte Lkw-Haftpflichtversicherer gem. § 831 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG zu verurteilen, wenn er (auch) aus der Halterhaftung in Anspruch genommen wird und wenn er den Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB nicht geführt hat.

2. An den Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB sind hohe Anforderungen zu stellen.

3. Das Gericht ist durch § 308 ZPO nicht gehindert, bei einer Klage auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes über die geäußerten Mindestvorstellungen (hier: mindestens 18000 DM) deutlich hinauszugehen (hier: 30000 DM).‹

 

Verfahrensgang

LG Essen (Entscheidung vom 28.07.1997)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen - das am 28. August 1997 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin 30.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 15.05.1996 zu zahlen.

Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Hälfte der Gerichtskosten und ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten sowie die gesamten außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) beider Instanzen.

Im übrigen werden die Kosten beider Instanzen der Beklagten zu 2) auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer der Klägerin und der Beklagten zu 2): 30.000,00 DM.

 

Gründe

I.

Bei einem Verkehrsunfall vom 03.08.1994, 18.15 Uhr, kam die am 17.08.1967 geborene Klägerin auf der ... innerorts ... mit ihrem Rennrad zu Fall, als sie von dem von dem Beklagten zu 1) gelenkten, bei der Beklagten zu 2) versicherten ... überholt wurde. Dabei geriet ihr linkes Bein unter die rechten Hinterräder des Hängers und wurde dabei in den Weichteilbereichen erheblich verletzt. Eine knöcherne Verletzung gab es nicht.

Die Klägerin befand sich in der Zeit bis zum 22.09.1994 in stationärer Behandlung; das Bein konnte bei anfänglicher Amputationsgefahr nach mehreren Operationen erhalten werden.

Mit der Behauptung, der ... der Beklagten habe sie in zu dichtem Abstand überholt und sei im übrigen rechts herübergefahren, hat die Klägerin Ersatz ihrer immateriellen Schäden (Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 18.000,00 DM) begehrt.

Die Beklagten haben ein Verschulden des Beklagten zu 1) in Abrede gestellt und behauptet, die Klägerin habe die zunächst zweispurige Fahrbahn verlassen, sei auf eine sich im Verlauf der Fahrstrecke rechtsseitig eröffnende weitere dritte Fahrspur gefahren und anschließend nach links in ihre frühere - inzwischen mittlere - Fahrspur zurückgekehrt. Dies sei für den Beklagten zu 1), der die Klägerin auf der zunächst rechten, inzwischen mittleren Fahrspur überholt habe, nicht erkennbar gewesen. Erst durch ein Schreien der Klägerin sei er - der Beklagte zu 1) - auf den Unfall aufmerksam geworden.

Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung von Zeugen und Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen ... mangels nachweisbaren Verschuldens des Beklagten zu 1) abgewiesen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die mit näheren Ausführungen weiterhin ein Verschulden des Beklagten zu 1) behauptet und - auf entsprechende Senatsanfrage - die Beklagte zu 2) sowohl aus der Fahrer- als auch aus der Halterhaftung in Anspruch nimmt.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil und haben ihrerseits den Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB angetreten.

Der Senat hat die Klägerin und den Beklagten zu 1) angehört sowie den Zeugen ... und den Sachverständigen ... vernommen.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin hat gegenüber der Beklagten zu 2) Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet.

1. Eine Haftung des Beklagten zu 1) gemäß den §§ 823, 847 BGB kommt nicht in Betracht, da auch nach dem erneuten Beweisergebnis ein Verschulden des Beklagten zu 1) nicht sicher feststellbar ist. Der Senat folgt insoweit der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils, wonach die Klägerin letztlich nicht hat beweisen können, daß sie stets auf der rechten und nach Dreiteilung der Straße auf der mittleren Fahrspur geblieben ist. Zwar hat der Sachverständige ... bei seinen Erläuterungen im Senatstermin diese Fahrweise deshalb für plausibel gehalten, weil der Beklagte zu 1) mit dem ... sehr weit links, und zwar unter teilweiser Mitbenutzung (2 dm) der linken Fahrspur gefahren ist. Dies spricht dafür, daß er einen ausreichenden Seitenabstand zur Klägerin einhalten wollte, der wiederum nur dann erforderlich war, wenn die Klägerin am rechten Rand der inzwischen mittleren Fahrspur gefahren ist. Sichere Feststellungen in dieser Richtung lassen sich allerdings nicht treffen, da gegen diese Annahme die er...

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