Leitsatz (amtlich)
Aus der in § 9 Abs. 2 Satz 2 StrWG NRW geregelten Verpflichtung des Straßenbaulastträgers, die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel zu berücksichtigen, möglichst weitgehende Barrierefreiheit zu erreichen, folgt nicht, dass jede Straße, unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung auch für behinderte Personen sicher zu befahren sein muss. Auch unter Berücksichtigung dieser Vorschrift bestimmt sich der Umfang der Verkehrssicherungspflicht danach, was ein durchschnittlicher Benutzer der betreffenden Verkehrsfläche vernünftiger Weise an Sicherheit erwarten darf.
Normenkette
BGB § 839; GG Art. 34; StrWG NRW §§ 9, 9a, 47
Verfahrensgang
LG Paderborn (Urteil vom 09.09.2013; Aktenzeichen 2 O 172/13) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 9.9.2013 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des LG Paderborn abgeändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Der Kläger begehrt von der Beklagten wegen eines Unfalls, den er nach seinem Behaupten am 18.8.2012 kurz vor 24.00 Uhr mit seinem Fahrrad auf der P-Straße in M-M erlitten haben will, Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, welches nach seiner in erster Instanz geäußerten Vorstellung wenigstens 2.000 EUR betragen sollte.
Das LG hat der Klage nach Beweisaufnahme teilweise stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 1.000 EUR verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt sei, dass der Kläger zu der von ihm angegebenen Zeit an einer der beiden von ihm im Ortstermin angegebenen Stellen auf der P-Straße mit seinem Fahrrad gestürzt sei. Die Straße habe sich in keinem verkehrssicheren Zustand befunden. Gemäß § 9 Abs. 2 StrWG NRW habe der Straßenbaulastträger bei der Herstellung und Unterhaltung der Straßen auch die Belange besonders gefährdeter Personengruppen wie Radfahrer sowie die Belange von Menschen mit Behinderung und anderen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen mit dem Ziel möglichst weitgehender Barrierefreiheit zu berücksichtigen. Solche öffentlich-rechtlichen Regelungen der Landesstraßengesetze seien auch für die Auslegung der Verkehrssicherungspflicht im Zivilrecht heranzuziehen. Demgemäß müssten die Straßen auch für Behinderte sicher sein. Der vorliegende Fall sei auch nicht mit dem Sachverhalt, welcher der von der Beklagten angeführten Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 11.11.1993 (Az.: 18 U 63/93) zugrunde gelegen habe, vergleichbar. Während es dort um eine Straße mit nur geringer Verkehrsbedeutung gegangen sei, könne dies von der P-Straße nicht gesagt werden, weil diese mehrere Wohnhäuser erschließe und auf ihr während des Ortstermins im Schnitt alle 6 Minuten ein Fahrzeug vorbeigekommen sei. Außerdem würde die Entscheidung des OLG Düsseldorf auch rechtlichen Bedenken begegnen, weil sie auf eine unzulässige Abwälzung der Verantwortung auf den Verkehrsteilnehmer hinauslaufe, was offenbar auch der BGH ablehne. Die vom Kläger nachweislich erlittenen Verletzungen würden zwar grundsätzlich ein Schmerzensgeld i.H.v. 2.000 EUR rechtfertigen. Allerdings sei der Schmerzensanspruch auf 1.000 EUR zu reduzieren, weil dem Kläger ein Mitverschulden von 50 % zur Last falle, da er nicht in der Mitte der Fahrbahn gefahren sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten der vom LG getroffenen tatsächlichen Feststellungen und der Urteilsbegründung wird auf die angefochtene Entscheidung erster Instanz Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Sie vertritt weiterhin die Ansicht, dass ihr schon keine Verkehrssicherungspflichtverletzung zur Last fällt. Das LG habe insoweit verkannt, dass der Umfang der Verkehrssicherungspflicht auch von dem für den Verkehrsteilnehmer erkennbaren Zustand der Straße sowie deren Verkehrsbedeutung abhänge. Der Zustand der P-Straße sei aber für jeden sorgfältigen Benutzer rechtzeitig zu erkennen. Auch handele es sich bei der P-Straße entgegen der Ansicht des LG um eine Straße von nur geringer Verkehrsbedeutung. Wegen der weiteren Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf Blatt 90 bis 100 der Akten verwiesen.
Die Beklagte beantragt, unter teilweise Abänderung der angefochtenen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung des LG als richtig.
II. Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das LG hat der Klage zu Unrecht teilweise stattgeben. Die Klage ist unbegründet.
1. Dem Kläger steht wegen des von ihm behaupteten Unfallgeschehens vom 18.8.2012 kein Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagte aus § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG und §§ 9, 9a, 47 StrWG NRW, 253 Abs. 2 BGB als der insoweit einzig ernsthaft in Betracht kommenden Anspruchsgrundlag...