Leitsatz (amtlich)

1. Das Vorfahrtsrecht "rechts vor links" (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO) erstreckt sich auf die gesamte Breite der Fahrbahn, so dass der nicht vorfahrtsberechtigt Einbiegende gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 StVO nur weiterfahren darf, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtsberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er das nicht übersehen muss er sich durch zentimeterweises Vorrollen bei jederzeitiger Anhaltemöglichkeit hereintasten.

2. Fährt der Vorfahrtsberechtigte jedoch ohne Not nicht möglichst weit rechts, liegt zwar kein Verstoß gegen § 2 Abs. 2 StVO vor, der nur den erlaubten Gegen- und Überholverkehr, nicht aber Abbieger- und Kreuzungsverkehr schützt, erhöht sich aber dadurch gleichwohl die Betriebsgefahr, die im vorliegenden Einzelfall mit 25 % zu bemessen ist (im Anschluss an OLG Hamm Urt. v. 16.08.2019 - 7 U 3/19, r+s 2020, 536 = juris Rn. 32, 38 m.w.N.).

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17 Abs. 2; StVO § 2 Abs. 2, § 8 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Aktenzeichen 2 O 238/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 19.10.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld (2 O 238/20) abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 4.781,92 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf 4.461,97 EUR seit dem 30.04.2020 und auf 319,95 EUR seit dem 26.08.2022 zu zahlen sowie den Kläger gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 492,54 EUR freizustellen.

Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 76 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 24 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 19.549,18 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1, 544 Abs. 2 ZPO abgesehen.

II. Die Berufung ist zulässig und teilweise begründet.

1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Ersatz von 25 % des bei ihm entstandenen unfallbedingten Schadens gegen die Beklagten als Gesamtschuldner gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG, § 1 PflVG.

a) Der im Eigentum des Klägers stehende Pkw ist bei dem Betrieb des vom Beklagten zu 1) gehaltenen und vom Beklagten zu 3) geführten Pkw, der im Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war, beschädigt worden. Der Unfall ist nicht durch höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG verursacht worden. Das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG ist weder jeweils von den Parteien dargetan noch sonst ersichtlich.

b) Damit hängt gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon abhängt, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (std. Rspr., vgl. z.B. BGH Urt. v. 15.5.2018 - VI ZR 231/17, beck-online Rn. 10; OLG Hamm Urt. v. 24.08.2021 - I-7 U 81/20, juris Rn. 9; OLG Hamm Urt. v. 03.12.2021 - I-7 U 33/20, juris Rn. 6). Darüber hinaus ist die konkrete Betriebsgefahr der beteiligten Kraftfahrzeuge von Bedeutung. Diese wird von objektiven Umständen wie der Größe, dem Gewicht und der Geschwindigkeit des Fahrzeugs in Relation zu den Straßen- und Witterungsverhältnissen bestimmt. Darüber hinaus kommt es auf die Eignung und das Verhalten des Fahrers an, die die Gefährlichkeit des Fahrzeugs in der Unfallsituation entscheidend beeinflusst haben können. Die Umstände, die die konkrete Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs erhöhen, insbesondere also dem anderen zum Verschulden gereichen, hat im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter zu beweisen (so schon OLG Hamm Urt. v. 03.12.2021 - I-7 U 33/20, juris Rn. 6 m.w.N.).

aa) Zu Lasten des Klägers ist neben der Betriebsgefahr des Pkw Kfz01 ein schuldhafter Verursachungsbeitrag in die Abwägung einzustellen, denn der Kläger hat, wovon das Landgericht zurecht ausgegangen ist, gegen § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, S. 3 StVO verstoßen.

Da sich die Kollision zwar schon auf der Fahrbahn der Astraße, aber noch im Zuge des Einbiegens des Klägers in diese ereignete, handelte es sich nicht um einen Unfall im Begegnungsverkehr. Soweit der Kläger in der Berufungsinstanz behauptet, er habe den Abbiegevorgang bereits beendet gehabt und schon zum Längsverkehr gehört, ist dieser Vortrag anhand der vorgelegten Lich...

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