Leitsatz (amtlich)

1. Verursacht der Führer eines Lkw eine Ausweichbewegung eines überholenden Fahrzeugs, ohne dies zu berühren, und kollidierte das überholende Fahrzeug anschließend mit einem Motorrad, erfolgt dieser Unfall bei Betrieb des Lkw (§ 7 Abs. 1 StVG).

2. In der herausgeforderten Ausweichbewegung liegt grundsätzlich auch kein Verstoß des Ausweichenden gegen § 1 Abs. 2 StVO. Sogar eine nicht optimale Reaktion des Ausweichenden fällt regelmäßig in den Risikobereich des Herausforderers.

3. § 17 Abs. 1 StVG ist Spezialnorm für den Gesamtschuldnerausgleich zwischen mehreren einen Unfall verursachenden Fahrzeughaltern (und deren Haftpflichtversicherern) betreffend Schäden von Dritten.

 

Verfahrensgang

LG Münster (Aktenzeichen 016 O 29/19)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 31.07.2020 verkündete Urteil des Einzelrichters der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster (Az.: 016 O 29/19) teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 32.407,05 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 6.794,82 EUR seit dem 15.04.2016 und aus 25.612,23 EUR seit dem 08.02.2019 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass soweit die Klägerin und die Beklagte Dritten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls vom 19.06.2015 auf der B2 in Richtung A als Gesamtschuldnerinnen haften, die Beklagte im Innenverhältnis allein haftet.

Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

(abgekürzt gemäß §§ 313a Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 2, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)

I. Die fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache ganz überwiegend Erfolg; denn im Innenverhältnis der Parteien als Gesamtschuldnerinnen hat die Beklagte für die Folgen des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls allein einzustehen.

Im Einzelnen:

1. Der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf vollständige Erstattung der durch die Klägerin wegen des Unfallereignisses, insbesondere wegen der Schädigung des Kleinkraftradfahrers B, geleisteten Beträge, folgt aus § 426 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG.

a) Die Parteien haften als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer für die Schadensfolgen aus dem Unfall als Gesamtschuldnerinnen gem. § 421 BGB; denn diese sind sowohl dem Betrieb - § 7 Abs. 1 StVG - des bei der Klägerin versicherten Pkw als auch dem Betrieb des bei der Beklagten versicherten Lkw zuzurechnen.

aa) Dem steht nicht entgegen, dass der bei der Beklagten versicherte Lkw berührungslos in das Unfallgeschehen eingebunden gewesen ist, denn der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Lkw hat die Ausweichreaktion des bei der Klägerin versicherten Pkw herausgefordert, die dann zum Schleudern des Fahrzeugs und schließlich zum Anprall desselben gegen den Geschädigten B geführt hat, wie das Landgericht gestützt auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen C vom 07.11.2019 und dessen mündliche Erläuterung im Termin vom 10.07.2020 überzeugend festgestellt hat. Einwendungen hiergegen erhebt die Beklagte insoweit in der Berufungsinstanz zu Recht nicht; denn die Haftung gem. § 7 StVG hängt nicht davon ab, ob es zu einer Berührung zwischen dem im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeug und einem weiteren Verkehrsteilnehmer kommt. Erforderlich ist vielmehr, dass die Fahrweise oder der Betrieb dieses Fahrzeugs zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen hat, also es nicht bloß an der Unfallstelle anwesend war (so auch OLG Hamm v. 28.05.2019 - 9 U 90/18, NJW 2019, 3082 beck-online Rn. 10). Von Letzterem kann vorliegend angesichts dessen, dass der Zeuge D zum Überholen unter Fahrstreifenwechsels von rechts nach links angesetzt hat, obwohl sich der bei der Klägerin versicherte PKW bereits neben dem LKW befand, nicht die Rede sein. Vielmehr wurde die Fahrerin des PKW durch das Fahrmanöver des Zeugen zu einer Ausweichreaktion veranlasst, was ausreicht, um die Haftung aus Betrieb zu eröffnen. Ob das Ausweichmanöver objektiv oder auch nur aus Sicht der PKW-Fahrerin erforderlich war, um eine Kollision zu vermeiden, oder ob ein schlichtes Abbremsen ausgereicht hätte, ist ohne Belang; denn selbst ein Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv und auch subjektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder Ausweichreaktion kann dem Betrieb des Kraftfahrzeugs gem. § 7 StVG zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat (vgl. OLG Hamm Urt. v. 28.05.2019 - 9 U 90/18, NJW 2019, 3082, Rn. 15 m. w. N., beck-online).

bb) Der Unfall ist ersichtlich nicht durch höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG verursacht worden und auch ein Haftungsausschluss wegen Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG sperrt die Eintrittspflicht nicht. Die Beklagte macht in der Berufungsinstanz eine Unabwendbarkeit schon gar nicht geltend, da sie die erstinstanzlich ausgeurteilte Haftungsquote zu ihren Lasten ak...

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