Leitsatz (amtlich)
1. Quert ein zehn Jahre und zwei Monate altes Kind im vollem Lauf zwischen aufgrund eines Rückstaus haltenden Pkw eine Straße und wird von einem Pkw im Gegenverkehr erfasst, ist sein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO im Rahmen von § 9 StVG in Verbindung mit § 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen, wenn ihm die Darlegung / der Beweis - wie hier - nicht gelingt, dass ihm die erforderliche Einsicht nach § 828 Abs. 3 BGB fehlte (im Anschluss an BGH Urt. v. 30.11.2004 - VI ZR 335/03, NJW 2005, 354 = juris Rn. 12, 15 m.w.N.; BGH Urt. v. 29.4.1997 - VI ZR 110/96, NJW-RR 1997, 1110 = juris Rn. 8 m.w.N.; OLG Hamm Urt. v. 16.9.2016 - I-9 U 238/15, BeckRS 2016, 113206 = juris Rn. 15).
2. Die in einem solchen Fall allein in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Gegenverkehr tritt nicht vollständig hinter dem überwiegenden Verschulden des Kindes zurück, wenn der Verkehrsverstoß des Kindes - wie hier - altersspezifisch nicht auch subjektiv als besonders vorwerfbar zu qualifizieren ist (im Anschluss an BGH Urt. v. 13.2.1990 - VI ZR 128/89, NJW 1990, 1483 = juris Rn. 22; OLG Celle Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22, r+s 2024, 132 = juris Rn. 59 f.).
Normenkette
BGB § 254 Abs. 1, § 828 Abs. 3; StVG § 7 Abs. 1, §§ 9, 17 Abs. 2-3; StVO § 25 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Münster (Aktenzeichen 016 O 95/22) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 06.10.2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster (16 O 95/22) unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche immateriellen und materiellen Schäden, die ihm in Folge des Unfalles vom 18.03.2021 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, nach einer Quote von 25 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz tragen der Kläger zu 75 % und die Beklagte zu 25 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten im Wege der Feststellungsklage um die Verpflichtung der Beklagten zur Leistung materiellen und immateriellen Schadensersatzes aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 18.03.2021 in Lüdinghausen, bei dem der damals zehn Jahre und zwei Monate alte Kläger als Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn mit dem Pkw der Beklagten kollidierte und schwerstverletzt wurde.
Der Kläger und sein zum Unfallzeitpunkt elf Jahre alter Freund, der Zeuge A, näherten sich im Laufschritt der B Straße aus einem Stichweg, der auf den Gehweg mündet, in der Absicht, die Straße zu überqueren. Auf der B Straße hatte sich zu dieser Zeit auf der von den Jungen zunächst zu überquerenden Richtungsfahrbahn ein Rückstau von wartenden Fahrzeugen gebildet, nachdem sich die Schranken eines weiter entfernten Bahnübergangs geschlossen hatten. Die beiden Kinder betraten im Laufschritt die blockierte Richtungsfahrbahn zwischen den Fahrzeugen und jedenfalls der Kläger lief, ohne anzuhalten oder zu schauen, zwischen den wartenden Fahrzeugen weiter auf die Gegenfahrbahn. Auf dieser näherte sich zu diesem Zeitpunkt die von einer vor dem Bahnübergang gelegenen Einmündung nach rechts auf die B Straße eingebogene Beklagte in ihrem Pkw. Der Kläger wurde von dem Pkw der Beklagten frontal erfasst und auf den Gehweg der jenseitigen Fahrbahnseite geschleudert. Hierdurch erlitt er unstreitig schwerste (vor allem Kopf-) Verletzungen.
Bezüglich der Einzelheiten des jeweiligen erstinstanzlichen Parteivortrages und der Anträge wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Landgerichts Münster (Blatt 363 ff. der elektronischen Gerichtsakte erster Instanz, nachfolgend eGA I) verwiesen.
Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme durch Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen C vollumfänglich abgewiesen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger infolge des Unfalls kein Anspruch gem. §§ 7, 18 StVG, § 823 BGB gegen die Beklagte zustehe, da eine Abwägung der Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten gem. § 9 StVG i. V. m. § 254 Abs. 1 BGB dazu führe, dass die bloße Betriebsgefahr des nach den sachverständigen unfallanalytischen Feststellungen leicht unterhalb der zulässigen Geschwindigkeitsgrenze von 50 km/h geführten Pkw der Beklagten vollständig hinter dem schwerwiegenden Verkehrsverstoß des Klägers gegen § 25 Abs. 3 StVO zurücktrete. Er habe sich vor dem Überqueren der Fahrbahn nicht vergewissert, ob sich auf der Gegenfahrbahn ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug nähere. Dieser Verstoß sei dem Kläger...