Leitsatz (amtlich)
1. Wenn ein Versicherungsagent die Kündigung einer bestehenden Kapitallebensversicherung und den Abschluss einer neuen empfiehlt, besteht eine weitgehende Beratungspflicht gegenüber dem Versicherungsnehmer. Beratungsverschulden hier bejaht.
2. Es gilt im Bereich der - auch Anlagezwecken dienenden - Kapitallebensversicherung ebenso wie im Kapitalanlagerecht eine Vermutung beratungsgerechten Verhaltens im Sinne einer echten Beweislastumkehr. Beweis durch Versicherer hier nicht geführt.
3. Zum Schaden des Versicherungsnehmers im Fall einer Umdeckung (unter C II 5 und 7). Schaden hier bejaht; Feststellungsurteil zugunsten des Versicherungsnehmers.
Verfahrensgang
LG Münster (Aktenzeichen 115 O 1421/21) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - das am 12.01.2023 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster (115 O 1421/21) abgeändert.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger so zu stellen, als hätte dieser die Kapitallebensversicherung vom 20.06.2000 zur Versicherungs-Nr.: N01 (mittlerweile aufgrund EDV-Umstellung geändert zu N02) nicht mit Wirkung zum 31.10.2018 gekündigt, und zwar mit der Maßgabe, dass der Kläger nicht besser zu stellen ist, als er im Falle des Fortbestehens des vorgenannten Vertrages stünde.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten der L. mbB in Höhe von 1.375,88 EUR freizustellen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 20 % und die Beklagte 80 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch die jeweilige Gegenpartei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenpartei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger, von Beruf (..), begehrt die Feststellung des Fortbestehens eines von ihm im Jahr 2018 gekündigten Kapitallebensversicherungsvertrags aus dem Jahr 2000, weil er die Wirksamkeit seiner Kündigung aufgrund Anfechtung und Beratungspflichtverletzungen in Abrede stellt.
Der Kläger hatte bei mit der Beklagten - damals noch firmierend unter E. Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft - im Jahre 2000 unter der Versicherungs-Nr.: N01 (mittlerweile aufgrund EDV-Umstellung geändert zu N02) eine (erlebensfallorientierte) Kapitallebensversicherung abgeschlossen (Versicherungsschein und Begleitschreiben eGA-I 12 ff. [eGA-I für die elektronische Gerichtsakte erster Instanz und eGA-II für die elektronische Gerichtsakte zweiter Instanz]) (nachfolgend auch: "Altvertrag"). Der monatliche Beitrag belief sich auf 54,00 DM/27,61 EUR. Die Versicherungsbeiträge wurden vom Vater des Klägers, dem Zeugen O., geleistet, der auch als Bezugsberechtigter für den Todesfall eingesetzt war.
Im Jahr 2007 hatte der Kläger zudem bei der Beklagten eine Rentenversicherung (nachfolgend auch: RV 2007) nebst Berufungsunfähigkeitszusatzversicherung (nachfolgend auch: BUZ 2007) abgeschlossen mit Versicherungsbeginn zum 01.01.2007 und einer garantierten monatlichen Rentenzahlung von 1.474,88 EUR (REN N03 - Versicherungsschein Bl. 252 ff. eGA-I). Der auf die BUZ entfallende Beitragsteil betrug 155,73 EUR + 4,08 EUR für die Beitragsbefreiung; der auf die Rentenversicherung entfallende 40,01 EUR (siehe Versicherungsschein Bl. 252 f. eGA-I).
Im Juni, September und Oktober 2018 fanden mehrere Beratungsgespräche zwischen dem Kläger und dem Vermittler der Beklagten, dem Zeugen Z., statt. Bei diesen Gesprächen war jedenfalls auch der Vater des Klägers, der Zeuge O., anwesend.
Nach erfolgter Beratung wurde der Monatsbeitrag für die BUZ 2007 mit Wirkung ab dem 01.011.2018 aus zwischen den Parteien streitigen Gründen (der Kläger behauptet eigenmächtige Herabsetzung durch den Zeugen Z.; die Beklagte einen entsprechenden Antrag) auf 96,75 EUR (95,47 EUR Beitrag + 1,28 EUR für die Beitragsbefreiung) herabgesetzt, mit der Folge, dass sich die monatliche BU-Rente auf 1.000,00 EUR reduzierte (Versicherungsschein Bl. 256 ff. eGA-I).
Ferner beantragte der Kläger den Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die unter der Versicherungsnummer N04 zum Abschluss kam (eGA-I 34 ff; eGA-I 153ff.; nachfolgend auch "Neuvertrag"). Der monatliche Beitrag belief sich auf 100,21 EUR. Als bezugsberechtigte Person im Erlebensfall setzte der Kläger sich persönlich und für den Todesfall seine Eltern ein. Auch für den Neuvertrag zahlte der Zeuge O. für den Kläger die monatlichen Beiträge.
Zugleich kündigte der Kläger den Altvertrag aus dem Jahr 2000 zum 31.10.2018. Die Beklagte bestätigte die Kündigung am 16.10.2018. Den Rückkaufswert von 6.540,30 EUR zahlte die Beklagte zunächst auf das Konto der Mutter des Klägers aus. Von diesem Betrag ließ der Kläger, ggf. über seinen Vater, 5.000 EUR i...