Leitsatz (amtlich)

1. Das Haftungsmerkmal "bei Betrieb" im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG ist bei einem sogenannten Kettenauffahrunfall regelmäßig - so auch hier - zu bejahen.

2. Der Fahrer des ersten Fahrzeugs bei einem sogenannten Kettenauffahrunfall, auf das aufgefahren wird, muss die Unabwendbarkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG beweisen. Dem kann - hier offen gelassen - eine irrtümliche Betätigung des falschen Fahrtrichtungsanzeigers entgegenstehen.

3. Zum - hier nicht geführten - Nachweis der Unabwendbarkeit für das letzte Fahrzeug bei einem sogenannten Kettenauffahrunfall, das auf die zuvor verunfallten Fahrzeuge auffährt.

4. Eine Haftungseinheit im Sinne der Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 16.4.1996 - VI ZR 79/95, r+s 1996, 261; vgl. auch OLG Hamm Urt. v. 8.11.2019 - 9 U 10/19, r+s 2020, 170) kommt bei einem sogenannten Kettenauffahrunfall zwischen dem ersten Fahrzeug, auf das aufgefahren wird, und dem zweiten Fahrzeug, das auffährt und auf das wiederum aufgefahren wird, nicht in Betracht, wenn der Kettenauffahrunfall entweder durch einen Verstoß des ersten Fahrzeugführers gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Abbiegen oder durch einen Verstoß des zweiten Fahrzeugführers gegen das Abstandsgebot verursacht worden ist.

5. Wird vor einem Abbiegevorgang zunächst der rechte Fahrtrichtungsanzeiger und in unmittelbarem Anschluss der linke Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt, muss - so hier - darin kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO liegen.

6. Zum - hier nicht geführten - Nachweis eines Bremsens ohne zwingenden Grund im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO.

7. Ein Anscheinsbeweis zulasten des letzten Auffahrenden bei einem sogenannten Kettenauffahrunfall kommt nicht in Betracht, wenn das vorausfahrende Fahrzeug durch seinen Aufprall auf das erste Fahrzeug den zur Verfügung stehenden Bremsweg für den letzten Auffahrenden verkürzt hat (im Anschluss an OLG Hamm Urt. v. 6.2.2014 - 6 U 101/13, r+s 2014, 472).

8. Dem innerstädtischen Kolonnenverkehr immanent ist das Risiko einer Bremswegverkürzung infolge einer Unaufmerksamkeit des plötzlich vollbremsenden und / oder mit dem Vordermann kollidierenden Vorausfahrenden, was im Einzelfall - so hier - im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 StVG als Betriebsgefahr erhöhend wirken kann.

 

Verfahrensgang

LG Münster (Aktenzeichen 02 O 318/18)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 25.03.2019 (Az. 02 O 318/18) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Dieses sowie das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus den Urteilen vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagten auf vollumfänglichen Ersatz ihres Schadens aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 14.06.2018 auf der O-Straße/Einmündung H-Ring in F ereignete.

Der Beklagte zu 1 befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw Skoda Fabia die O-Straße in Richtung F. Hinter ihm fuhr der Zeuge L mit einem BMW 118 i, diesem folgte die Gesellschafterin der Klägerin mit dem klägerischen VW Touran.

Der Beklagte zu 1 beabsichtigte, nach links abzubiegen und bremste sein Fahrzeug zu diesem Zweck ab. Es kam zu einem Kettenauffahrunfall, bei dem zunächst der Zeuge L auf das Beklagtenfahrzeug auffuhr, sodann die Gesellschafterin der Klägerin auf das Fahrzeug des Zeugen L, welches dann erneut auf das Beklagtenfahrzeug aufgeschoben wurde.

Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, der Beklagte zu 1 habe plötzlich ohne erkennbaren Anlass eine Vollbremsung vorgenommen, da er beabsichtigt habe, vor dem an der Ecke O-Straße/H-Ring gelegenen Imbiss zu halten. Er habe den Blinker nicht betätigt. Diesen Unfallhergang habe er nach dem Unfall auch gegenüber den hinzugerufenen Polizeibeamten sowie der Zeugin M bestätigt.

Dem Zeugen L sowie ihrer Gesellschafterin sei es nicht mehr möglich gewesen, rechtzeitig zu bremsen.

Die Beklagten haben behauptet, der Beklagte zu 1 habe den als Beifahrer in seinem Fahrzeug befindlichen Zeugen C nach Hause bringen und deshalb in den H-Ring abbiegen wollen.

In Höhe des Beginns des letzten Hauses auf der linken Seite der O-Straße vor dem H-Ring habe der Zeuge C ihm bedeutet, dass er jetzt nach links abbiegen müsse. Daraufhin habe der Beklagte zu 1 den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und gleichzeitig gebremst. Er habe sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet. Wegen Gegenverkehrs habe er nicht sofort abbiegen können, sondern habe zunächst anhalten müssen. Dabei habe er nicht stark gebremst.

Die Beklagten haben behauptet, der Unfall sei darauf zurückzuführen, dass die Gesellschafterin der Klägerin bzw. der Zeuge L unaufmerksam gewesen seien oder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hätten.

Wegen der weiteren Einzelhe...

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