Leitsatz (amtlich)
Ein Arzt, der auf vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt einem - für sich allein noch nicht haftungsbegründenden - Diagnoseirrtum. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar ist.
Normenkette
BGB §§ 611, 280, 249ff, 823
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 04.12.2012; Aktenzeichen 4 O 135/09) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 4.12.2012 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des LG Bielefeld abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Kläger haben von den Beklagten wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 5.000 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes, den Ersatz von Verdienstausfall für die Kindesbetreuung i.H.v. 27.972 EUR, den Ersatz von Unterhaltsschaden ab Januar 2009 i.H.v. 270 % des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragsverordnung abzgl. des Kindergeldes, die Zahlung weiterer 12.518,44 EUR (rückständiger Unterhaltsschaden und vorgerichtliche Anwaltskosten) sowie die Feststellung weiter gehender Ersatzpflicht begehrt.
Die Klägerin, bei der unerkannt eine Uterus-Anomalie bestand, ließ sich am 30.5.2005 durch den Beklagten zu 1), der Gesellschafter der Beklagten zu 2) ist, unter Ultraschallkontrolle eine Spirale zur Empfängnisverhütung einsetzen. Gleichwohl wurde bei ihr im März 2007 eine Schwangerschaft festgestellt, die am ...2007 zur Geburt einer gesunden Tochter führte.
Die Klägerin zu 1) und ihr Lebensgefährte, der Kläger zu 2) haben behauptet, der Einsatz der Spirale sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Die bei der Klägerin vorliegende Anomalie eines Uterus bicornis hätte bereits im Rahmen der Ultraschallkontrolle bemerkt werden müssen. Das Vorliegen der Anomalie habe eine absolute Kontraindikation dargestellt; die Spirale hätte keine verhütend Wirkung entfalten können.
Die Beklagten haben sich im Wesentlichen darauf berufen, dass die Anomalie im Rahmen des Einsetzens der Spirale und der nachfolgenden Sitzkontrolle nicht diagnostiziert war gewesen sei. Veranlassung für weiter gehende Untersuchungen, die die Anomalie hätten zeigen können, aber nicht bestanden.
Das LG hat der Klage nach Beweisaufnahme durch schriftliche und mündliche Begutachtung durch Prof. Dr. G im Wesentlichen stattgegeben. Es hat die Beklagten in der Hauptsache zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 5.000 EUR und zum Ersatz des Unterhaltsschadens im Umfang von 240 % des Regelbetrages verurteilt und ferner die Ersatzpflicht für zukünftige weitere Schäden festgestellt. Abgelehnt hat es dagegen die Verurteilung zur Zahlung von Verdienstausfallschaden und den Ersatz von Unterhaltsschäden über den Satz von 240 % des Regelbetrages hinaus.
Zur Begründung hat es maßgeblich darauf abgestellt, dass dem Beklagten zu 1) entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. G ein vorwerfbare Behandlungsfehler anzulasten sei, der auch zu Haftung der Beklagten Gemeinschaftspraxis führe. Bei der Klägerin habe eine zweite Vagina und ein doppelter Uterus vorgelegen, so dass das Einlegen der Spirale nur in die linke Gebärmutter fehlerhaft gewesen sei. Die Anomalie hätte anlässlich der sorgfältigen Untersuchung, wie sie beim Einsetzen der Spirale erforderlich gewesen sei, erkannt werden können und müssen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die die vollständige Klageabweisung begehren.
Es liege allenfalls ein vertretbarer und deshalb nicht haftungsbegründenden Diagnoseirrtum vor. Bei der vorliegenden Fehlbildung handele es sich um eine seltene Anomalie, die auch nur sehr schwer und nur unter besonderen Untersuchungsbedingungen zu diagnostizieren gewesen sei. Überdies habe auch anlässlich des Einsetzens der Spirale keine Veranlassung bestanden, gezielt nach einer solchen Fehlbildung zu suchen. Der Beklagte zu 1) habe sich insoweit leitliniengerecht verhalten. Wegen dieser Sachlage hätten auch Vor- Nachbehandler die Fehlbildung nicht erkannt, und auch in vergleichenden Studien seien derartige Anomalien von den Probanden häufig nicht erkannt worden. Selbst der gerichtliche Sachverständige habe sie unter Schwierigkeiten nur gefunden, weil er gezielt und in Kenntnis des Vorhandenseins der Fehlbildung nach ihr gesucht habe.
Dessen Bewertung sei widersprüchlich und unbrauchbar gewesen, so dass dem LG auch ein Verfahrensfehler vorzuwerfen sei, weil es gleichwohl kein Obergutachten eingeholt habe.
Die Beklagten beantragen, das Urteil des LG Bielefeld vom 4.12.2012 mit dem Aktenzeichen 4 O 135/09 teilweise abzuändern u...