Leitsatz (amtlich)
1. Die Kollisionsnormen des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ) bestimmen auch dann das maßgebende Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 (Brüssel IIa-VO) ergibt. Dies gilt jedenfalls, wenn eine Zuständigkeit (auch) aus den Art. 5 ff. KSÜ - bei einer fiktiven Anwendung - begründet wäre.
2. Das Sorgerechtsstatut nach Art. 16 Abs. 1 KSÜ ist grundsätzlich durch die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar. Es stellt sich die Frage der Rückwirkung des Art. 16 Abs. 1 KSÜ für die bis zum In-Kraft-Treten des Abkommens am 1.1.2011 abgeschlossenen Tatbestände.
3. Zur Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 3 KSÜ, wenn sich der Aufenthaltswechsel des Kindes und somit der Verlust der sorgerechtlichen Position eines Elternteils bereits zu einer Zeit vollzogen hat, zu der das KSÜ in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht in Kraft getreten war.
Verfahrensgang
AG Singen (Beschluss vom 29.08.2012; Aktenzeichen 2 F 191/12) |
Tenor
1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - Singen vom 29.8.2012 (2 F 191/12) wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
4. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin S. aus F. beigeordnet.
Gründe
I. Gegenstand des Verfahrens ist die elterliche Sorge für das Kind T.
Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern des am 18.5.2005 in E. (Russland) geborenen Kindes T.. Die Antragstellerin besitzt die russische, der Antragsgegner die irische Staatsangehörigkeit. T. lebt seit ihrer Geburt bei der Antragstellerin, die mit ihr mit Einverständnis des Antragsgegners im Jahre 2006 nach Deutschland übergesiedelt ist. Die Eltern sind nicht miteinander verheiratet. Sorgeerklärungen wurden nicht abgegeben.
Das Familiengericht Singen hat mit Beschluss vom 29.8.2012 auf Antrag der Antragstellerin die elterliche Sorge für das gemeinsame Kind T. auf die Antragstellerin übertragen. Zwischen den Eltern bestehe keine tragfähige soziale Beziehung. Eine Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge entspreche nicht dem Kindeswohl. Auf die Entscheidung des Familiengerichts wird verwiesen.
Der Antragsgegner hat gegen diesen - ihm am 31.8.2012 zugestellten - Beschluss mit am 1.10.2012 beim AG eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt. Er strebt die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge an und beruft sich auf die Entscheidung des BVerfG vom 21.7.2010 (1 BvR 420/09), mit der das Recht der Väter gestärkt worden sei. Der Antragsgegner trägt vor, dass er eine gute Beziehung sowohl zu seinem Kind als auch zur Antragstellerin habe. Er wolle Verantwortung für T. übernehmen. Die Antragstellerin begehre nur deshalb die Alleinsorge, da sie für T. einen irischen Pass beantragen wolle.
Die Antragstellerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Der Antragsgegner sorge sich nicht für die gemeinsamen Tochter und strebe keine regelmäßigen Umgangskontakte an; er habe seine Tochter seit ihrem dritten Lebensmonat nur vier- bis fünfmal gesehen. Im Übrigen zahle er keinen Unterhalt. Der Antragsgegner verhalte sich unkooperativ, da er notwendige, gegenüber Behörden abzugebende Erklärungen verweigere, namentlich seine Zustimmung zur Ausstellung eines irischen Passes für das Kind sowie die Genehmigung zur Ein- und Ausreise des Kindes in die Russische Föderation.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache keinen Erfolg.
Das AG - Familiengericht - Singen ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Antragstellerin die alleinige elterliche Sorge für das Kind T. zusteht. Die Ausführungen des Antragsgegners in seiner Beschwerdeschrift rechtfertigen keine andere Beurteilung.
1. Die - vom Familiengericht angenommene - Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die bei Fällen mit Auslandsberührung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen und zu beachten ist, folgt im vorliegenden Falle aus Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 (Brüssel IIa-VO). Diese Verordnung ist stets anwendbar, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat, vgl. Art. 61 lit. a Brüssel IIa-VO. Grundsätzlich sind nach Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO die Gerichte des Staates für die Sorgerechtsregelung international zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
2. Das anzuwendende Recht bestimmt sich nach dem Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vol...