Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorschrift des § 454 Abs. 2 Nr. 1 StPO schreibt die Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens vor, wenn das Gericht "erwägt", die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen. Im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung kommt die Verneinung eines solchen "Erwägens" regelmäßig nur dann in Betracht kommen kann, wenn die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint.

2. Ein zur Frage der Strafaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung eingeholtes psychiatrischen oder psychologisches Sachverständigengutachten erfüllt nicht die Mindestanforderungen an die Erstellung einer solchen Begutachtung (vgl. Boetticher u.a. NStZ 2006, 537), wenn es sich nicht zur Frage verhält, ob eine ggf. vorliegende Persönlichkeitsstörung oder -auffälligkeit die Gefahr der Begehung von Gewaltdelikten oder ähnlichen schwerwiegende Straftaten begründet.

 

Tenor

  1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - A. vom 16. Dezember 2015 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - A. zurückgegeben.
 

Gründe

I.

Mit Urteil des Landgerichts V. vom 13.09.1993 wurde der Beschwerdeführer wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitstrafe verurteilt. Er befand sich ab 25.03.1993 zunächst in Untersuchungshaft und ab 03.05.1994 in Strafhaft. Mit Beschluss des Landgerichts Z. vom 08.02.2011 wurde die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt - u.a. mit der Weisung, abstinent von Drogen und Alkohol zu leben und sich entsprechenden Kontrolluntersuchungen zu unterziehen.

Nachdem mehrere Tests einen Alkoholkonsum belegten und der Verurteilte einen solchen schließlich einräumte, beauftragte das Landgericht Z. mit Beschluss vom 20.10.2014 den psychiatrischen Sachverständigen Dr. I. damit, im Rahmen eines zu erstattenden Sachverständigengutachtens erforderliche Maßnahmen in der Bewährungsaufsicht zu benennen, mit denen der aus dem wieder aufgetretenen Alkoholkonsum resultierenden Gefahr neuer Straftaten durch mildere Maßnahmen begegnet werden könne. Dr. I. hatte bereits 2009 und 2010 im Rahmen des zur Aussetzung führenden Verfahren den Verurteilten untersucht und begutachtet. Mit schriftlichem Gutachten vom 13.11.2014 nahm der Sachverständige, der den Verurteilten am 28.10.2014 exploriert hatte, Stellung zu der Frage der nun erforderlichen Maßnahmen in der Bewährungsaufsicht und dazu, wie die Prognose in medizinischer, sozialer und legaler Hinsicht eingestuft wird. Er empfahl den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung sowie insoweit eine Aufnahme des Verurteilten in die Abteilung Suchtrehabilitation des Vollzugskrankenhauses H. und die Teilnahme am dortigen zwölfmonatigem Therapieprogramm, das Lockerungsmaßnahmen umfasse und dann in Freiheit führen solle.

Nachdem der Verurteilte am 16.12.2014 im Wege der Sicherungshaft inhaftiert wurde, widerrief die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Z. mit Beschluss vom 03.02.2015 die Strafaussetzung zur Bewährung. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten verwarf das Oberlandesgericht K. mit Beschluss vom 18.02.2015 als unbegründet. Der Verurteilte befindet sich seit 10.03.2015 in der JVA L.. Eine Kostenzusage für eine von ihm begehrte stationäre Langzeittherapie wurde abgelehnt, einen Antrag auf Aufnahme in die Abteilung Suchtrehabilitation des Vollzugskrankenhauses H. hat er bislang nicht gestellt.

Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten am 15.12.2015 im Beisein seines Verteidigers zu seinem Antrag auf Aussetzung der Reststrafe vom 03.06.2015 angehört. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 16.12.2015 hat das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - A. den Antrag des Verurteilten auf (erneute) Aussetzung der Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts V. vom 13.09.1993 abgelehnt.

Die hiergegen form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung des Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer.

II.

Die statthafte und zulässige sofortige Beschwerde hat vorläufig Erfolg. Eine Entscheidung über die Aussetzung der restlichen Strafvollstreckung zur Bewährung ist vorliegend ohne Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens eines forensisch-psychiatrischen Sachverständigen nicht möglich, § 454 Abs. 2 StPO. Ein solches Gutachten ist im Rahmen der umfassenden Sachverhaltsaufklärungsverpflichtung der Strafvollstreckungskammer erforderlich, um eine hinreichende Entscheidungsgrundlage für die zu treffende Prognose nach § 57 a Abs. 1 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu erhalten (OLG Dresden NJW 2009, 3315 m.w.N.; BVerfG NJW 2007, 1933 m.w.N.).

§ 454 Abs...

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