Entscheidungsstichwort (Thema)
rechtliches Gehör. Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung. Akteneinsichtsrecht des Verteidigers. Zum Anspruch auf Informationsgewährung im Bußgeldverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Wird einem Antrag auf Überlassung von nicht bei den Akten befindlichen Informationen, auf die der Betroffene Anspruch hat (hier: Bedienungsanleitung, Lebensakte), nicht entsprochen und hat sich der Betroffene nachhaltig um die Informationsgewährung bemüht, ist dem darauf gestützten Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung zu entsprechen. Ein Übergehen des Antrags stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar.
2. Liegt zwischen der Zurückweisung des Antrags auf Informationsüberlassung durch die Bußgeldbehörde und der Abgabe an das Gericht ein Zeitraum, in dem eine Stellung und Bescheidung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG nicht zu erwarten ist, steht das Unterbleiben des Antrags der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren nicht entgegen.
3. Dem Verteidiger ist bei der Informationsgewährung Gelegenheit zu geben, Ablichtungen zu fertigen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1; OWiG § 74 Abs. 2, § 62; StPO § 147 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Waldkirch (Entscheidung vom 28.12.2022; Aktenzeichen 2 OWi 530 Js 27603/22) |
Tenor
- Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Waldkirch vom 28.12.2022 wird zugelassen.
- Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Waldkirch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Waldkirch zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Stadt X. setzte mit Bußgeldbescheid vom 25.7.2022 gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein Bußgeld von 115 € fest. Erstmals mit dem fristgerecht eingelegen Einspruch begehrte der Betroffene unter Ankündigung eines Antrags nach § 62 OWiG ihm verschiedene Unterlagen, u.a. die Lebensakte und die Bedienungsanleitung des Messgeräts, zur Verfügung zu stellen. Hinsichtlich der Bedienungsanleitung verwies die Verwaltungsbehörde auf den Gerätehersteller, hinsichtlich der Lebensakte auf eine Einsichtnahme in den Räumen der Verwaltungsbehörde. Seit das Verfahren am 29.8.2022 beim Amtsgericht Waldkirch anhängig war, bemühte sich der Verteidiger sowohl gegenüber der Verwaltungsbehörde als auch gegenüber dem Gericht weiterhin wiederholt um Überlassung der vorbezeichneten, nicht bei der Gerichtsakte befindlichen Unterlagen (im Original oder durch Übersendung von Kopien), wurde jedoch von der Verwaltungsbehörde auf die Einsichtnahme in ihren Räumen verwiesen, wobei zudem die Möglichkeit zur Fertigung von Ablichtungen versagt wurde. Nachdem der Verteidiger einen angebotenen Termin zur Einsichtnahme am 21.12.2022 unter Bemängelung der Beschränkungen nicht wahrgenommen hatte, teilte die Verwaltungsbehörde mit E-Mail vom 21.12.2022 mit, die Angelegenheit als erledigt anzusehen. Mit einem 28.12.2022 kurz nach 10:00 Uhr mittels beA beim Amtsgericht Waldkirch unter Hinweis auf die Dringlichkeit eingereichten Schriftsatz beantragte der Verteidiger deshalb, den am selben Tag auf 14:00 Uhr anberaumten Verhandlungstermin aufzuheben und das Verfahren bis zur Gewährung eines angemessenen Informationszugangs auszusetzen. Gleichwohl verwarf das Amtsgericht, nachdem zum Termin weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen waren, den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid. Der nach Zustellung des Verwerfungsurteils an den Verteidiger am 9.1.2023 am 10.1.2023 gestellte und am 9.2.2023 begründete Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist u.a. auf eine Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützt. Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat auf Zurückverweisung der Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils angetragen.
II.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist zuzulassen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG).
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfGE 22, 267, 274; BGH NStZ-RR 2003, 49; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn. 67, 94 ff.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann dabei auch dadurch verletzt werden, dass das Gericht prozessual erhebliches Vorbringen übergeht, bei dessen Berücksichtigung die getroffene Entscheidung nicht hätte ergehen dürfen (OLG Karlsruhe - Senat - ZfS 2018, 471; OLG Dresden NZV 2013, 613 - Nichtbescheidung eines Antrags auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen; KG NStZ 2011, 584; OLG Brandenburg NZV 2003, 432; OLG Köln VRS 96, 451 - jeweils zur Nichtberücksichtigung von Entschuldigungsvorbringen).
2. Die zur Geltendmachung im Zulassungsverfahren erforderliche Verfahrensrüge ist zulässig ausgeführt, da die maßgeblichen...