Leitsatz (amtlich)

1. Zur Anwendungsbereich des Überstellungsübereinkommens

2. Zum Begriff des Fluchtfalles in Art. 68 SDÜ

3. Es ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, bei Vorliegen eines Abwesenheitsurteils zunächst im Auslieferungsverfahren die Auslieferung eines Verfolgten zur Strafvollstreckung wegen Verstoßes gegen die in § 83 Nr. 3 IRG normierten Mindestanforderungen zu versagen und diese bei einem sich daran anschließenden Vollstreckungsübernahmeersuchen nicht in gleichem Umfang zu beachten.

 

Tenor

  • 1.

    Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts K. - vom 19. Juni 2012 aufgehoben.

  • 2.

    Die Vollstreckung der im Urteil des Appellationsmilitärgerichts R. vom 07. Mai 2008 gegen den deutschen Staatsangehörigen A. verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik Deutschland wird für nicht zulässig erklärt.

  • 3.

    Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe

I.

Der deutsche Staatsangehörige A. wurde durch Urteil des Appellationsmilitärgerichts R./Italien vom 07.05.2008 in seiner Abwesenheit wegen der Straftat der "Beteiligung an der mehrfach erschwerten und fortgesetzten Gewalt und Tötung an nicht kämpfenden Zivilisten" zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Verurteilung erfolgte auf Berufung der Staatsanwaltschaft, nachdem A. zuvor von diesem Vorwurf in erster Instanz vom Militärgericht S. mit Urteil vom 13.01.2007 freigesprochen worden war.

Nach den Feststellungen im Urteil des Appellationsmilitärgerichts R. vom 07.05.2008 hat sich der heute 91-jährige A. als Angehöriger der damaligen 16. SS-Panzer-Grenadier-Division im Rang eines Unterscharführers am 29. und 30.09.1944 sowie am 01. und 05.10.1944 im Gebiet von M. S./ Italien in der Nähe der Gemeinden M., G. und Mo. bei einer Vergeltungsaktion gegen Partisanen an der Tötung von mindestens 800 nicht an den Kriegshandlungen beteiligten Zivilisten, darunter vielen Kindern, Frauen und Greisen, beteiligt.

Am 21.10.2010 lehnte die Generalstaatsanwaltschaft K. die Bewilligung der Auslieferung des Verurteilten nach Italien zur Strafvollstreckung aufgrund einer Ausschreibung der italienischen Justizbehörden im Schengener Informationssystem (SIS) ab, nachdem der Verfolgte seiner Auslieferung nicht zugestimmt hatte (§ 80 Abs. 3 IRG). Mit an das Bundesamt der Justiz gerichteter Note vom 21.07.2011 hat das italienische Justizministerium unter Bezugnahme auf Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) vom 13.06.2002 (RbEuHb) nunmehr um Übernahme der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe ersucht, welche gegen A. durch Urteil des Appellationsmilitärgerichts R. vom 07.05.2008 verhängt worden war.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht K. die im Urteil des Urteil des Appellationsmilitärgerichts R. vom 07.05.2008 verhängte lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 IRG für vollstreckbar erklärt und gemäß § 54 Abs.1 Satz 2 IRG eine lebenslange Freiheitsstrafe nach deutschem Recht festgesetzt. Gegen diesen dem Rechtsbeistand des Verurteilten am 25.06.2012 zugestellten Beschluss hat A. mit am 27.06.2012 eingegangenen Schriftsatz seines Rechtsbeistandes von diesem Tage sofortige Beschwerde eingelegt und diese mit Schriftsätzen vom 11.07.2012 und 26.07.2013 weiter begründet.

II.

Dem nach § 55 Abs. 2 IRG zulässigen, form- und fristgerecht eingelegten Rechtsmittel kann ein Erfolg nicht versagt bleiben.

1. Der Vollstreckungshilfeverkehr mit Italien richtet sich nach dem Übereinkommen vom 21.03.1983 über die Überstellung verurteilter Personen (Überstellungsübereinkommen - im folgenden: ÜberstÜbk - BGBl. 1991 II S. 1006, 1007; 1992 II S. 98) in Verbindung mit Art. 67 - 69 des Schengener Übereinkommens vom 19.06.1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengener Durchführungs-übereinkommen - im folgenden: SDÜ - BGBl. 1993 II S. 1010, 1013; 1902, 1904;1994 II S. 631; 1996 II S. 242; 1997 II S. 1530; 1998 II S. 1968, 1969). Das Zusatzprotokoll vom 18.12.1997 zu dem vorbezeichneten ÜberstÜbk (im folgenden: ZP-ÜberstÜbk) findet keine unmittelbare Anwendung, da es von Italien bislang nicht ratifiziert wurde (Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Auflage 2012, ZP-Überstübk, II C 1, Vertragstabelle). Die Art. 67-69 SDÜ schließen die insoweit bestehende rechtliche Lücke für die Fälle, in welchen sich der Verurteilte nicht mehr im Urteilsstaat aufhält, sondern sich der Vollstreckung oder weiteren Vollstreckung der Strafe oder Maßregel durch Flucht in seinen Heimatstaat entzogen hat (KG NJW 2008, 673). Nach Art. 69 Satz 2 SDÜ sind danach die Vorschriften des ÜberstÜbK mit Ausnahme des dort in Art. 3 Abs.1 lit. d) zwingend vorgesehenen Erfordernisses der Zustimmung des Verurteilten zur Übertragung der Vollstreckung ...

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