Leitsatz (amtlich)
1. Auch nach Abgabe der Vollstreckung einer Jugendstrafe an die Staatsanwaltschaft nach § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG hat die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe nach § 88 JGG und nicht nach § 57 StGB zu erfolgen.
2. Ist eine Abgabe nach Ziffer 1 erfolgt, ist bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen grundsätzlich ein kriminalprognostisches Gutachten nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO einzuholen.
Verfahrensgang
LG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 13.07.2017) |
LG Karlsruhe (Entscheidung vom 30.06.2011; Aktenzeichen 7 KLs 301 Js 43801/10 Hw) |
Tenor
- Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Karlsruhe wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg im Breisgau - Strafvollstreckungskammer - vom 13.07.2017 aufgehoben. Die Aussetzung des Restes der Jugendstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2011 - 7 KLs 301 Js 43801/10 Hw. - zur Bewährung wird abgelehnt.
- Der Verurteilte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
1. Der zwischenzeitlich 25-jährige Verurteilte M, deutscher und pakistanischer Staatsangehöriger, wurde durch Urteil des Landgerichts K vom 30.06.2011, rechtskräftig seit dem selben Tage, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung unter Einbeziehung dreier früherer Urteile zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Entscheidung liegen zwei am späten Abend des 22.12.2010 begangene Taten zugrunde. Zunächst schlitzte er in einem Straßenbahnwagen der Verkehrsbetriebe K mittels eines Einhandmessers das Polster eines Sitzes auf, wodurch ein Schaden in Höhe von 75,- EUR entstand. Einige Zeit danach kam es zu einer zunächst verbalen und dann tätlichen Auseinandersetzung im Bereich des K-Marktplatzes vor der Gaststätte "Café X" zwischen dem Verurteilten und zwei dunkelhäutigen jungen Männern; der Verurteilte hatte einen der beiden zuvor als "Nigger" angesprochen, wodurch sich der andere beleidigt fühlte. Der Verurteilte zog schließlich ein Messer mit einer Klingenlänge von ca. zehn Zentimetern und stieß dieses dem zweiten jungen Mann ohne rechtfertigenden Grund plötzlich und unvermittelt mit erheblicher Wucht in den Unterbauch. Hierbei erkannte er die Möglichkeit des Todes als Folge des Messerstichs und nahm dies billigend in Kauf. Durch den Einstich in den Leberlappen quoll eine Darmschlinge aus der Bauchdecke heraus, weshalb der Verletzte sofort notoperiert werden musste; ansonsten hätten Blutverlust und Organversagen zum Tode geführt. Bei der Tat wies der Verurteilte eine Blutalkoholkonzentration von höchstens 1,1 Promille auf; seine Schuldfähigkeit wurde hierdurch nicht beeinträchtigt. Aufgrund von Reifeverzögerungen wurde Jugendstrafrecht angewendet (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG).
2. Die Jugendstrafe wurde zunächst in der Justizvollzugsanstalt A vollstreckt. Durch Beschluss des Amtsgerichts A vom 02.10.2013 - 1 VRs 521/11 - wurde die Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe ab dem "20.11.2013 Tagende" bei einer Bewährungszeit von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Für die Dauer von zwei Jahren wurde der Verurteilte der Bewährungshilfe unterstellt; ferner wurden ihm verschiedene Weisungen erteilt. Die restliche Jugendstrafe betrug noch 761 Tage. Nachdem am 15.12.2014 ein Sicherungshaftbefehl erlassen werden musste, wurde die Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss des Amtsgerichts A vom 26.10.2015 - 1 BwL 186/13 jug. - widerrufen sowie angeordnet, dass die restliche Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene zu vollziehen ist. Ursache der Entscheidung waren mangelnde Kontakthaltung zur Bewährungshilfe, unterlassene Kontaktaufnahme zur Suchtberatung sowie unterlassene Mitteilung des Wegzugs ins Ausland im November 2014. Ferner hatte er sich innerhalb der Bewährungszeit zweimal erneut strafbar gemacht (Erschleichen von Leistungen in fünf Fällen, zuletzt am 18.07.2014, und vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis am 06.10.2014).
Durch Beschlüsse des Amtsgerichts F vom 11.03.2016 - 15 VRJs 75/16 jug. -, welcher mit Beschluss des Landgerichts F vom 09.05.2016 - 6 Qs 11/16 Hw. - aufgehoben wurde, und vom 17.08.2016 wurde die Aussetzung der restlichen Jugendstrafe, welche seit dem 13.10.2015 vollstreckt wurde, jeweils abgelehnt.
Mit Beschluss des Amtsgerichts A vom 29.09.2016 - 1 VRJs 585/16 - wurde die Übertragung der Vollstreckung auf den Jugendrichter des Amtsgerichts F zurückgenommen und diese gem. §§ 110 Abs. 1, 85 Abs. 6 JGG an die Staatsanwaltschaft Karlsruhe abgegeben.
Der Verurteilte beantragte mit Schreiben vom 25.01.2017 (in Verbindung mit dem erläuternden Schreiben vom 10.04.2017), die Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe zur Bewährung auszusetzen. Die Justizvollzugsanstalt F ist dem Antrag durch Stellungnahmen vom 22.03.2017, 24.05.2017 und 02.06.2017 entgegen getreten. Seitens der Staatsanwaltschaft Karlsruhe wurde mit Schriftsatz vom 21.06.2017 auf Versagung der Reststrafaussetzun...