Leitsatz (amtlich)
1. Ein Verstoß gegen Art.. 8 MRK führt dann zu einem Auslieferungshindernis , wenn der Kernbereich der Garantie verletzt ist (Fortführung von Senat StraFo 2007, 477 und NStZ 2005, 351).
2. Ein solcher Fall kann im Rahmen der Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier Polen) aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Strafvollstreckung dann anzunehmen sein, wenn bereits in einem anderen Mitgliedstaat (hier Italien) eine gerichtliche Entscheidung getroffen wurde, dass der Verfolgte die gegen ihn die im Europäischen Haftbefehl aufgeführte Strafe in dem Mitgliedsstaat seines tatsächlichen Aufenthalts (hier: Italien) verbüßen darf.
Normenkette
RbEuHb Art. 4 Nr. 6; EMRK Art. 8; IRG § 73 S. 3, § 83b
Tenor
- Die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zur Strafvollstreckung aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in P. vom 12. Mai 2010 wird für nicht zulässig erklärt.
- Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 21. März 2014 wird aufgehoben. Die sofortige Freilassung des Verfolgten wird angeordnet
- Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Verfolgten fallen der Staatskasse zur Last.
- Eine Entschädigung für die erlittene Auslieferungshaft wird nicht bewilligt.
Gründe
I.
Gegen den sich seit seiner vorläufigen Festnahme am 19.02.2014 derzeit in Auslieferungshaft befindlichen Verfolgten besteht ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts in P./Polen vom 12.05.2010, aus welchem sich ergibt, dass er mit Urteil des Amtsgerichts in M. vom 11.12.2007 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde, von welcher noch neun Monate und 21 Tage zur Vollstreckung anstehen. Die dem Verfolgten zur Last liegenden Straftaten werden im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in P. vom 12.05.2010 nebst rechtlicher Bewertung wie folgt umschrieben:
wird ausgeführt
Der Verfolgte hat einer vereinfachten Auslieferung bei seinen richterlichen Anhörungen am 20.02.2014, 13.03.2014 und 10.04.2014 vor dem Amtsgericht F. nicht zugestimmt und über seinen Rechtsbeistand angegeben, er wohne seit Ende des Jahres 2007 in Italien, habe dort einen festen Wohnsitz und ein festes Einkommen. Auch seine Mutter und seine weiteren Bekannten lebten in Italien. Bereits im Jahre 2011 sei er in Italien in dieser Sache aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der polnischen Justizbehörden festgenommen worden und habe sich drei Monate in "Hausarrest" befunden.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 14.03.2014 beantragt,
die Auslieferung im nachgesuchten Umfang für zulässig zu erklären; zugleich hat sie entschieden, dass nicht beabsichtigt sei, Bewilligungshindernisse geltend zu machen.
Aus dem dem Senat vorliegenden Urteil des Oberlandesgerichts S./Italien vom 18.11.2011 ergibt sich, dass aufgrund des Urteils des Amtsgerichts M./Polen vom 12.11.2007 am 05.12.2010 ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts M./Polen in dieser Sache erlassen und der Verfolgte aufgrund dieses Europäischen Haftbefehls zunächst am 15.09.2011 in A./Italien verhaftet und am 16.09.2011 gegen ihn in Absehung einer weiteren Inhaftierung durch das Oberlandesgericht S. die Zwangsmaßnahme eines Hausarrestes angeordnet wurde. Auch hat das Oberlandesgerichts S. in seinem Urteil vom 18.11.2011 dem Auslieferungsersuchen der polnischen Justizbehörden nicht stattgegeben, weil der Verfolgte seit 2007 in Italien lebe und seit etwa vier Jahren dort seinen persönlichen, familiären und arbeitstechnischen Mittelpunkt habe. Gleichzeitig hat es angeordnet, das die gegen den Verfolgten durch Urteil des Amtsgerichts M./Polen vom 12.11.2007 verhängte Freiheitsstrafe in Italien zu verbüßen sei, worüber die polnischen Justizbehörden zu informieren seien.
II.
Die Auslieferung des Verfolgten nach Polen aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in P. vom 12.05.2010 ist nicht zulässig.
Allerdings liegen die materiellen Auslieferungsvoraussetzungen vor. Die dem Verfolgten zur Last gelegten Taten erfüllen nach deutschem Strafrecht unbeschadet einer Einstufung als Katalogtaten nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb i.V. § 81 Nr. 4 IRG jedenfalls die Strafvorschriften der §§ 239, 223, 240, 53 StGB und stellen sich damit als auslieferungsfähige Straftaten im Sinne des § 81 Nr. 2 IRG dar.
Es besteht jedoch ein Auslieferungshindernis, weil eine Auslieferung des Verfolgten jedenfalls in der besonderen vorliegenden Fallkonstellation einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Verfolgten auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen würde (Art. 8 MRK i.V.m. § 73 Satz 2 IRG).
1. Gegenstand des Auslieferungsersuchens der polnischen Justizbehörden ist ein Europäischer Haftbefehl, welchem nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 13.06.2002 (RbEuHb) der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von justitiellen Entscheidungen zugrunde liegt. Nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb sind die Mitgliedstaaten danach gr...