Leitsatz (amtlich)
1. Die Haftrichterzuständigkeit des Oberlandesgerichts in Auslieferungssachen beginnt bereits mit der Festnahme des Verfolgten und ist von der Stellung eines formalen Antrags der Generalstaatsanwaltschaft insbesondere dann nicht abhängig, wenn die Freilassung des Verfolgten zu verfügen ist.
2. Zur gebotenen Gesamtabwägung bei Ablehnung des Erlasses eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls (hier: Auslieferung eines ehemaligen PKK-Angehörigen zur Strafvollstreckung an die Türkei).
Normenkette
IRG §§ 6, 13-16, 22, 24, 73 S. 1; EuAlÜbk Art. 3; EuTerrÜbk Art. 1
Tenor
Die sofortige Freilassung des Verfolgten wird angeordnet.
Gründe
Die sofortige Freilassung des Verfolgten war anzuordnen, da sich eine Auslieferung des Verfolgten in die Türkei im Rahmen einer Gesamtschau mit hoher Wahrscheinlichkeit als offensichtlich unzulässig erweisen wird (§§ 16, 15 Abs. 2 IRG).
I.
Der Verfolgte ist Bezugsperson zweier INPOL-Ausschreibungen der türkischen Justizbehörden, aus welcher sich ergibt, dass er durch zwei Urteile türkischer Gerichte wie folgt verurteilt wurde:
Wird ausgeführt
Aufgrund dieser Ausschreibung wurde der Verfolgte bereits am 28.09.2016 in B./Deutschland von der Polizei festgenommen und dem Haftrichter des Amtsgerichts B./Deutschland vorgeführt. Dieser lehnte jedoch unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 16.09.2010 (2 BvR 1608/07; StV 2011, 170) den Erlass einer Festhalteanordnung vor allem deshalb ab (§ 22 Abs. 3 IRG), da dem Verfolgten als Mitglied der PKK im Falle einer Auslieferung an die Türkei die Gefahr der Folter drohe.
III.
Am 18.12.2020 wurde der Verfolgte in C./Rosenheim erneut festgenommen, da die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Justiz am 14.10.2016 die Ausschreibung wegen Nichtbestehen von der Festnahme entgegenstehender Bedenken wieder aktiviert hatte. Am 18.12.2020 erließ das Amtsgericht C./Rosenheim eine Festhalteanordnung und übersandte das Haftrichterprotokoll auf dem Postwege an die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe, welches dort bislang nicht eingegangen ist. Diese hat am 28.12.2020 schriftlich und am 29.12.2020 fernmündlich mitgeteilt, einen Haftantrag erst nach Eingang des Haftrichterprotokolls stellen zu wollen. Zusätzliche Ermittlungen hat sie nicht veranlasst.
Der Rechtsbeistand des Verfolgten hat mit umfangreichen Schriftsatz vom 28.12.2020 auf Ablehnung des Erlasses eines vorläufigen Haftbefehls angetragen und u.a. einen Bescheid des Bundesamtes für Migration BFM des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartment EJPD der Schweiz vom 11.03.2013 vorgelegt, aus welchem sich ergibt, dass der Verfolgte von dieser Behörde als politischer Flüchtling anerkannt wurde.
IV.
Der Senat bejaht - auch wegen der Eilbedürftigkeit einer Sachentscheidung aufgrund einer vorläufigen Beurteilung - seine Zuständigkeit (§ 14 IRG), da der Verfolgte wegen des gleichen Tatvorwurfs zu einem früheren Zeitpunkt im hiesigen Zuständigkeitsbereich ergriffen wurde (OLG Koblenz NStZ 2006, 110; Vogel/Burchard in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen § 14 Rn.3 IRG) und die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe - auch wenn dies vorliegend ggf. auch aufgrund der Vornahme weiterer Ermittlungen ersichtlich geboten gewesen wäre - durch Anordnung der endgültigen Löschung der Fahndungsausschreibung das Auslieferungsverfahren nicht endgültig abgeschlossen hat (vgl. hierzu auch Böhm in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, a.a.O, § 24 Rn.39).
Der Senat ist als Haftrichter mit dem Zeitpunkt der Festnahme des Verfolgten auch zur Entscheidung berufen (Böhm in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, a.a.O, § 22 Rn. 24, 26), so dass es auf eine Antragstellung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe insbesondere dann nicht ankommt, wenn die Freilassung des Verfolgten zu verfügen ist.
V.
Die sofortige Freilassung des Verfolgten war anzuordnen (§ 24 IRG), da sich eine Auslieferung des Verfolgten in die Türkei im Rahmen einer Gesamtschau mit hoher Wahrscheinlichkeit als offensichtlich unzulässig erweisen wird (§§ 16, 15 Abs.2 IRG).
Dies ergibt sich vorliegend bereits naheliegend daraus, dass der Verfolgte in einem westeuropäischen Land (hier der Schweiz) als Asylberechtigter anerkannt ist und insoweit Schutz vor politsicher Verfolgung genießt (§ 6 Abs.2 IRG; vgl. hierzu Senat NStZ-RR 2004, 442 und StV 2007, 652; Böhm in: Ahlbrecht/Böhm/Esser/Eckelmanns, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 2018, Rn. 827 ff.).
Hinzu kommt, dass die türkischen Justizbehörden die dem Verfolgten zur Last liegende Straftat selbst als an sich nicht auslieferungsfähige (ausschließlich) politische Straftat im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 IRG, Art. 3 Abs. 1 EuAlÜbk (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a.) bewerten (Senat StraFo 2008, 121; ders. Beschluss vom 29.06.2017, Ausl. 301 AR 101/17, abgedruckt bei juris; KG, Beschluss vom 29.08.2018, (4) 151 AuslA 59/17, abgedruckt bei juris; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe...