Entscheidungsstichwort (Thema)
Schützenswertes Vertrauen auf Ersatz von Behandlungskosten in der privaten Krankenversicherung
Leitsatz (amtlich)
1. In Ausnahmefällen kann in der privaten Krankenversicherung der Versicherer nach Treu und Glauben zum Ersatz von Behandlungskosten verpflichtet sein, obwohl sich diese als medizinisch nicht notwendig erweisen (Vertrauenshaftung). Dabei sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen.
2. Im Ausgangspunkt ist eine vorbehaltlose Kostenerstattung über einen längeren Zeitraum grundsätzlich geeignet, beim Versicherungsnehmer das berechtigte Vertrauen darauf zu wecken, dass auch in Zukunft eine Erstattung weiter erfolgen werde. Auch dann ist aber ein Anspruch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nur unter weiteren besonderen Voraussetzungen zu bejahen.
Normenkette
BGB § 242; VVG § 192
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Urteil vom 27.05.2022; Aktenzeichen 21 O 511/17) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 27.05.2022, Az. 21 O 511/17, wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Kranken- und Pflegeversicherungsvertrages die Erstattung von Heilbehandlungskosten. Sie erlitt im Jahr 2009 einen Infarkt der linken Koronararterie (LMCA). Ab dem Jahr 2013 bis zum Oktober 2015 befand sie sich in Behandlung bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Umweltmedizin Dr. W. Die Klägerin litt in diesem Zeitraum u.a. an einer Hornhautverkrümmung, latentem Schielen und einem beginnenden grauen Star bei zunehmender Sehverschlechterung; ferner unter extremer muskulärer Verspannung der Halswirbelsäule inklusive beider Schultern, multiplen Blockierungen der Wirbelsäule, einer Rippenblockade mit Bewegungseinschränkungen, einer Atlas- und Axis-Verschiebung sowie einer erheblichen Schmerzsymptomatik und extremen Kopfschmerzen. Zudem bestand eine globale motorische Aphasie (Sprachstörung), eine Kontrastmittelallergie und intermittierendes Vorhofflimmern.
Dr. W. führte bei der Klägerin u.a. eine Photonentherapie und eine hyperbare Ozontherapie durch. Die Beklagte bezahlte die Heilbehandlungskosten für diese Behandlungen in den Jahren 2013 und 2014, nahm aber jeweils geringe Abzüge vor. Nach weiteren Leistungsanträgen der Klägerin kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 23.03.2015 eine Prüfung des Leistungsanspruchs an und forderte einen ausführlichen Befund- und Behandlungsbericht sowie eine unterschriebene Einverständniserklärung an. Für die im Zeitraum Februar 2015 bis Juli 2015 erbrachten Leistungen stellte Dr. W. der Klägerin insgesamt 9.542,95 EUR in Rechnung. Die Beklagte erstattete hiervon 1.679,30 EUR; wegen der übrigen Rechnungspositionen lehnte sie die Kostenerstattung mit Schreiben vom 28.10.2015 und auf erneute Aufforderung durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit weiterem Schreiben vom 19.06.2017 ab.
Die Klägerin hat Zahlungsklage auf die verbleibende Differenz von 7.863,65 nebst Zinsen erhoben und geltend gemacht, sämtliche abgelehnten Leistungen seien medizinisch notwendig gewesen und die Kosten daher von der Beklagten zu erstatten. Zudem verhalte sich die Beklagte treuwidrig, nachdem sie die streitgegenständliche Behandlung zuvor unbeanstandet erstattet und die streitgegenständlichen Rechnungen erst nach siebenmonatiger Prüfungszeit abgelehnt habe.
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 4.234,78 EUR nebst Zinsen zu zahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Aufgrund von eingeholten Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen der Neurologie, der Augenheilkunde, der Orthopädie, der Inneren und der alternativen Medizin ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass nur Kosten im Umfang von 322,77 EUR auf medizinisch notwendige Behandlungen im Sinne der Versicherungsbedingungen zurückgingen und deshalb von der Beklagten zu übernehmen seien. Weitere 4.013,77 EUR habe die Beklagte aber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu erstatten. Hiervon entfielen 101,76 EUR zugleich auf medizinisch notwendige Behandlungen und seien in den og. 322,77 EUR enthalten. Die Klägerin habe auf die Übernahme der weiteren Behandlungskosten vertrauen dürfen, nachdem die Beklagte sämtliche Behandlungskosten in den Jahren 2013 und 2014 bezahlt habe. Der Vertrauenstatbestand sei erst durch das Schreiben der Beklagten vom 23.03.2015 beendet worden, mit dem die Beklagte eine Überprüfung des Leistungsanspruchs angekündigt habe.
Die Beklagte akzeptiert die Verurteilung, soweit die Behandlung für medizinisch notwendig erachtet wurde (322,77 EUR), wendet sich mit ihrer Berufung aber gegen...