Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Beurteilung, ob die Beeinträchtigung eines Grundstücks durch von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen als wesentlich im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB anzusehen ist, ist das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Anliegen zu berücksichtigen, Behinderten ein Leben frei von vermeidbaren Beschränkungen zu ermöglichen. Im nachbarlichen Zusammenleben ist daher ein erhöhtes Maß an Toleranzbereitschaft zu fordern. Die Grenze der Duldungspflicht ist erst dann erreicht, wenn dem Nachbarn die Belästigung billigerweise nicht mehr zumutbar ist.
2. Einem Behinderten kann das Bewohnen des in seinem Eigentum stehenden Hausgrundstücks nur dann untersagt werden, wenn von ihm ausgehende, den Nachbarn billigerweise nicht mehr zumutbare Beeinträchtigungen nicht auf andere Weise abgewehrt werden können.
3. Sind die bei dem Behinderten auftretenden Krankheitssymptome, welche zu die Benutzung des Nachbargrundstücks beeinträchtigenden Einwirkungen führen, behandelbar, so verstieße die Verurteilung des Behinderten zur Unterlassung der weiteren Wohnbenutzung seines Grundstücks gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 3 S. 2; BGB §§ 242, 906 Abs. 1 S. 1, § 1004 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LG Offenburg (Aktenzeichen 2 O 286/98) |
Tenor
1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des LG Offenburg vom 30.12.1998 – 2 O 286/98 – wird als unbegründet zurückgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten der Berufung.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger können jedoch die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 16.000 DM abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten. Die Sicherheiten können jeweils durch selbstschuldnerische unbefristete Bürgschaft eines in Deutschland als Zoll- oder Steuerbürge zugelassenen Kreditinstituts erbracht werden.
4. Die Kläger sind mit mehr als 60.000 DM beschwert.
Tatbestand
Die Parteien bewohnen in einer in der Nachkriegszeit errichteten Siedlung, die aus Zeilen mehrerer aneinandergebauter schmaler Reihenhäuser besteht, zwei unmittelbar benachbarte Häuser. Der am 27.5.1956 geborene Beklagte Nr. 1) ist zusammen mit seiner Schwester (Beklagte Nr. 2) Miteigentümer des von ihm seit seiner Kindheit bewohnten Hauses. Die Kläger haben ihr Haus Mitte 1997 gekauft und wohnen seitdem dort.
Der Beklagte Nr. 1) leidet bereits seit langer Zeit an einer psychischen Erkrankung, nämlich einer chronischen affektiven Psychose mit Neigung zu Affekthandlungen mit Triebdurchbrüchen auf dem Boden einer depressiven Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägtem Strukturdefizit und psychotischem Verarbeitungsmodus (Gutachten der Amtsärztin Dr. M. vom 4.5.1998, I 85/101) und steht unter Betreuung. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst die Vermögenssorge, die Aufenthaltsbestimmung und die Gesundheitsfürsorge (vgl. I 103).
Die Kläger haben vorgetragen, der Beklagte Nr. 1) terrorisiere die Nachbarschaft. Er lärme tagsüber und auch nachts, indem er Gegenstände herumwerfe, schreie, Selbstgespräche führe, Klopfgeräusche verursache und das Radio laut laufen lasse. Er spreche teilweise wirres Zeug, schimpfe unflätig und habe auch schon gedroht, die Häuser in der Nachbarschaft anzuzünden. Wegen der Einzelheiten wird auf die von den Klägern gefertigten Auflistungen für die Zeit vom 11.11.1997 bis zum 1.2.1998 (I 27/33), vom 5.3.1998 bis zum 14.6.1998 (I 35/37) und vom 10.7.1998 bis zum 15.7.1998 (I 53) sowie auf die Wiedergabe des Inhalts eines von den Klägern aufgenommenen Videofilms (I 11/15) verwiesen. Wenn der Beklagte Nr. 1 vor dem Haus – meist mit nacktem Oberkörper – herumlärme, traue sich die Klägerin Nr. 2) nicht mehr aus dem Haus. Sie sei schon derart psychisch belastet, dass sie sich in ärztliche Behandlung habe begeben müssen.
Die Kläger haben die Auffassung vertreten, aufgrund der Verhaltensweisen des Beklagten Nr. 1) hätten sie gegen diesen einen Anspruch, die Nutzung seines Hauses zu unterlassen. Weil der Beklagte Nr. 1) aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, eine Unterlassungsverpflichtung zu begreifen und ihr nachzukommen, sei sein Auszug aus dem Haus die einzige Möglichkeit, die Kläger vor weiteren vom Beklagten Nr. 1) ausgehenden Störungen zu schützen. Die Beklagte Nr. 2) als Miteigentümerin des Hauses habe dafür zu sorgen, dass der Beklagte Nr. 1) „verschwinde” (vgl. I 51).
Die Beklagten haben beantragt,
1. den Beklagten Nr. 1) zu verurteilen, die Nutzung des Hausanwesens S.-weg in O. zu unterlassen und
2. die Beklagte Nr. 2) zu verurteilen, die Nutzung des genannten Hausanwesens durch den Beklagten Nr. 1) einzustellen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben vorgetragen, der Beklagte Nr. 1) sei geschäftsunfähig. Dass er „seltsame Sachen mache”, werde nicht bestritten. Mit Nichtwissen bestritten würden allerdings die von den Klägern einzeln aufgezählten Verhaltensweisen des Beklagten Nr. 1), ferner, dass diese der...