Leitsatz (amtlich)
Das Gebot der Waffengleichheit im Arzthaftungsprozess gebietet es, dass das Gericht die Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger sorgfältig und kritisch würdigt und Unklarheiten, Unvollständigkeiten oder Zweifel von Amts wegen auszuräumt. Unterlässt das Gericht die gebotene Aufklärung des Sachverhalts in dem ihm möglichen Rahmen, verletzt es regelmäßig die Vorschriften der §§ 411, 286 ZPO und verkennt die grundlegende Anforderungen an das Beweisverfahren im Arzthaftungsprozess, was einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.v. § 539 ZPO a.F. darstellt
Normenkette
ZPO a.F. §§ 286, 411, 539
Verfahrensgang
LG Baden-Baden (Urteil vom 05.05.2000; Aktenzeichen 1 O 217/99) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Baden-Baden vom 5.5.2000 – 1 O 217/99 – einschließlich des ihm zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.
II. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsrechtszugs, an das LG Baden-Baden zurückverwiesen.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Das Verfahren des LG leidet unter einem wesentlichen Mangel i.S.d. § 539 ZPO, denn das LG hat die grundlegenden Anforderungen an das Beweisverfahren im Arzthaftungsprozess nicht beachtet, sodass die getroffene Entscheidung keine tragfähige Grundlage in den getroffenen Feststellungen findet.
Der Arzthaftungsprozess erfährt seine maßgebliche Prägung dadurch, dass i.d.R. ein medizinischer Laie einem ihm an Fachkompetenz weit überlegenen medizinischen Fachmann gegenüber steht. Dies erfordert in besonderem Maße eine kritische Sorgfalt des Gerichts. Der Richter ist deshalb, mehr als in einem durchschnittlichen Parteiprozess, zu gesteigerter Aufmerksamkeit aufgerufen; dem Gebot der Waffengleichheit ist er in solchen Verfahren in besonderem Maße verpflichtet (vgl. BGH v. 24.6.1980 – VI ZR 7/79, MDR 1980, 1013 = VersR 1980, 940). Dies hat zur Folge, dass das Gericht dem Sach- und Streitstoff besondere Aufmerksamkeit widmen und die Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger sorgfältig und kritisch zu würdigen hat. Unklarheiten, Unvollständigen oder Zweifel sind von Amts wegen auszuräumen. Unterlässt das Gericht die gebotene Aufklärung des Sachverhalts in dem ihm möglichen Rahmen, verletzt es, insbesondere wenn eine der Parteien Einwendungen gegen das Gutachten vorgetragen hat, die Vorschriften der §§ 411, 286 ZPO (st. Rspr. des BGH: BGH v. 4.3.1980 – VI ZR 6/79, MDR 1980, 662 = VersR 1980, 533; v. 19.5.1981 – VI ZR 220/79, VersR 1981, 752; v. 17.9.1985 – VI ZR 12/84, VersR 1985, 1187 [1188]; v. 3.12.1996 – VI ZR 309/95, MDR 1997, 287 = VersR 1997, 191 [192]; v. 4.3.1997 – VI ZR 354/95, MDR 1997, 644 = NJW 1997, 1638 [1639]). Die demnach gebotene vollständige Aufklärung des Sachverhalts in medizinischer Hinsicht erfordert es in aller Regel, dass sich das Gericht die vollständigen Originalkrankenakten des beklagten Arztes vorlegen lässt und diese dem mit der Beurteilung des Behandlungsgeschehens betrauten medizinischen Sachverständigen zur Verfügung stellt. Darüber hinaus hat das Gericht, soweit es zur Beurteilung der medizinischen Fragen erforderlich ist, auch darauf hinzuwirken, dass sonstige Behandlungsunterlagen vorgelegt und dem Sachverständigen zugänglich gemacht werden. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Anschlussbehandlung bei einem anderen Arzt oder Krankenhaus in Frage steht, die Rückschlüsse darüber ergeben kann, ob der in Anspruch genommene Arzt den medizinischen Standard gewahrt hat oder ob dessen Behandlungsmaßnahmen für die eingetretenen Gesundheitsbeeinträchtigungen ursächlich waren. Unterlässt das Gericht die Beiziehung der Krankenakten, verletzt es ebenfalls die ihm obliegende Pflicht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts (vgl. auch OLG Oldenburg v. 5.5.1998 – 5 U 10/98, OLGReport Oldenburg 1998, 222 = NJW-RR 1999, 718 [719]).
Die Beweiserhebung durch das LG wird diesen Anforderungen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Die Originalkrankenunterlagen der Beklagten wurden vom Gericht nicht beigezogen. Es begnügte sich mit einem in Kopie vorgelegten Auszug aus den Behandlungsunterlagen des Beklagten zu 2) (I 61 u. I 147) sowie mit einer schriftlichen Zeugenaussage des Beklagten zu 2) im Strafverfahren (I 145). Die Krankenunterlagen des Beklagten zu 1, die noch nicht einmal (und sei es auszugsweise) in Kopie vorgelegt worden waren, wurden vom Gericht nicht beigezogen. Auch nachdem der vom LG beauftragte Sachverständige an mehreren Stellen seines Gutachtens deutlich darauf hinwiesen hatte, dass eine fundierte Aussage zu dem Behandlungsgeschehen ohne die Krankenunterlagen nicht möglich sei (Gutachten S. 5, I 221; S. 6, I 223; S. 8, I 227; S. 9, I 229; S. 12, I 235; S. 13, I 237; S. 14, I 239; S. 17, I 245), hat das LG trotz der bereits im Gutachten niedergelegten offensichtlichen Unvollständigkeit keine Maßnahmen ergriffen, um ...