Leitsatz (amtlich)
1. Eine Gemeinde überschreitet bei der Ausgestaltung des Auswahlverfahrens für einen neuen qualifizierten Wegenutzungsvertrag i.S.d. § 46 Abs. 2 EnWG den ihr grundsätzlich zustehenden Spielraum, wenn durch die gewählte Gestaltung der Bewertung in Bezug auf das Kriterium "Preisgünstigkeit" das Verhältnis von tatsächlicher Netzabgabe im Verhältnis von Haushalts- und Gewerbekunden zu Industriekunden fast in das Gegenteil verkehrt wird und bestimmte Abnehmergruppen bei der Prognose der Netznutzungsentgelte dadurch in erheblicher Weise unterrepräsentiert werden.
2. Der Zahl der Niederspannungsnetzkunden, die weniger als 1/4 des Stroms beziehen, ein Gewicht von gut 7/8 bei der Bewertung beizumessen, erscheint prima facie sachwidrig. Örtliche Besonderheiten oder sachgerechte Erwägungen, die diesen Bewertungsunterschied vernünftig erscheinen lassen würden, müssen ggf. von der Gemeinde vorgetragen werden.
Tenor
1. Die Berufung der Verfügungsbeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 11.02.2021, 22 O 55/20 Kart, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten der Berufung fallen der Verfügungsbeklagten zur Last.
Gründe
I. Die Parteien streiten im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens über die Rechtmäßigkeit eines Konzessionsvergabeverfahrens, das sich im Stadium vor der Auswahl des Konzessionärs befindet.
Die Verfügungsbeklagte (fortan: die Beklagte) ist eine Stadt mit rund [...] Einwohnern im Landkreis [...]. Sie führt ein mit Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom [...] eingeleitetes Konzessionsvergabeverfahren durch, in dem sie einen Vertragspartner für einen neuen qualifizierten Wegenutzungsvertrag i.S.d. § 46 Abs. 2 EnWG für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen sucht, die zu einem Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung im Stadtgebiet mit Ausnahme des Ortsteils [...] gehören (Stromkonzessionsvertrag). Sie forderte qualifizierte Unternehmen auf, ihr Interesse bei der verfahrensleitenden Stelle anzuzeigen.
Die Netzabsatzmengen betrugen zum Stand 31.12.2018 gemäß einer Anlage zum 1. Verfahrensbrief im Konzessionsgebiet betreffend SLP-Kunden, d.h. Haushaltskunden Niederspannung bei 6.042 Zählpunkten 22.805.782 kWh, betreffend RLM-Kunden, d.h. Industriekunden Mittelspannung bei 39 Zählpunkten 80.288.330 kWh und betreffend Gewerbekunden Niederspannung bei 19 Zählpunkten 3.160.182 kWh (Anlage AS 5). Die Beklagte forderte die Bieter auf, eine substantiierte Prognose der künftigen Netznutzungsentgelte (anhand der derzeitigen Preisblätter) vorzulegen und zu begründen.
Die Verfügungsklägerin (fortan: die Klägerin) beteiligt sich am Wettbewerb um den Abschluss eines Stromkonzessionsvertrags mit der Beklagten und bekundete hierzu ihr Interesse fristgerecht. Die Beklagte erläuterte das Auswahlverfahren in einem 1. Verfahrensbrief vom 02.11.2020 (Anlage AS 1), dem hinsichtlich der Auswahlkriterien und deren Gewichtung für die Vergabe der Netzkonzession ein Kriterienkatalog als Anlage 2 beigefügt war (Anlage AS 2). Dort wurden unter Punkt "C." die einzelnen Wertungskriterien sowie deren Gewichtung nebst Erläuterungen zur Bewertung der Angebote im Rahmen des Stromkonzessionsvergabeverfahrens genannt. Danach lag die maximal zu erreichende Gesamtpunktzahl in der Gruppe A (Erreichung der Ziele des § 1 EnWG) bei 875 Punkten. Neben dem 1. Kriterium der sicheren Versorgung (350 zu erreichende Punkte) wurden als 2. Kriterium die Preisgünstigkeit (145 zu erreichende Punkte), als 3. Kriterium die Verbraucherfreundlichkeit (150 zu erreichende Punkte), als 4. Kriterium die Effizienz (100 zu erreichende Punkte) und als 5. Kriterium die Umweltverträglichkeit (130 zu erreichende Punkte) angegeben.
Die Beklagte gestaltete das Kriterium der "Preisgünstigkeit" in der Weise, dass zwischen drei sog. Abnahmefällen, nämlich den Haushaltskunden (Unterkriterium 2.1.1 mit 70 zu erreichenden Punkten), den Gewerbekunden (Unterkriterium 2.1.2 mit 35 zu erreichenden Punkten) und den Industriekunden (Unterkriterium 2.1.3 mit 15 zu erreichenden Punkten) unterschieden wird, womit bezogen auf das Kriterium der Preisgünstigkeit auf die Niederspannungskunden (Haushalts- und Gewerbekunden) 87,5 % der zu erreichenden Punkte und auf die Mittelspannungskunden (Industriekunden) 12,5 % der zu erreichenden Punkte entfallen sollen.
Mit Schreiben vom 17.11.2020 rügte die Klägerin, dass die drei unter Ziffern 2.1.1, 2.1.2 sowie 2.1.3 des Kriterienkataloges benannten Abnahmefälle (Haushaltskunde, Gewerbekunde, Industriekunde) in sachwidriger Weise gewichtet worden seien, weil die Stromentnahme in der Mittelspannung (und damit der Abnahmefall "Industriekunde") unverhältnismäßig unterrepräsentiert in die Bewertung des Unterkriteriums 2.1 einfließen solle (Anlage AS 3).
Am 25.11.2020 ging der Klägerin der 3. Verfahrensbrief zu. Darin teilte die Antragsgegnerin u. a. mit, dass sie den Rügen der Klägerin in dem Rügeschreiben vom 17. November 2020 hinsichtlich des Unterkriteriums 2.1 nicht abhelfe und begründete dies auszugsweise wie folgt:
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