Leitsatz (amtlich)
1.
Zur Rechtfertigung durch Notstand beim Umgang mit Cannabisprodukten zum Zwecke der Linderung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen
2.
Für das Erfordernis der Geeignetheit der Notstandshandlung reicht es aus, dass die erfolgreiche Abwendung des drohenden Schadens nicht ganz unwahrscheinlich ist. Die Frage, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit sein muss, um die Beeinträchtigung des Eingriffsguts zu rechtfertigen, ist im Rahmen der Interessenabwägung zu beantworten.
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts M. vom 15. Mai 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schöffengerichtsabteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I.
Dem Angeklagten liegt nach dem Strafbefehl des Amtsgerichts M. vom 21.01.2000 und der Anklage der Staatsanwaltschaft M. vom 10.07.2002 zur Last, jeweils ohne die erforderliche Erlaubnis am 28.06.1999 128,65 Gramm Marihuana, 73,60 Gramm Haschisch und 23 Joints sowie am 17.02.2002 elf Joints mit Tabak/Marihuana-Gemisch, 14 jeweils 1,5 m hohe Hanfstauden und 59,7 Gramm Marihuana in zwei Tütchen und einer Schüssel (insgesamt 381,99 Gramm Marihuana und Marihuanagemisch mit einer Wirkstoffmenge von 12,76 Gramm Tetrahydrocannabinol) besessen zu haben.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Besitzes von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG sowie des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG freigesprochen, weil die Taten jeweils nach § 34 StGB durch Notstand gerechtfertigt gewesen seien. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft.
Das zulässige Rechtsmittel (§ 335 Abs. 1 StPO) hat in der Sache vorläufigen Erfolg.
II.
Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte seit Mitte der 80er Jahre an Multipler Sklerose. Diese Erkrankung, die sich zunächst schubweise entwickelte und nunmehr seit etwa 1995 einen schleichenden Krankheitsverlauf nimmt, hat beim Angeklagten zu einer mittelschweren Residualsymptomatik geführt, welche subjektiv durch ein generalisiertes Muskelschmerzsyndrom, depressive Verstimmung und eine einschießende Spastik sowie objektiv durch Koordinationsstörungen im Sinne einer Ataxie gekennzeichnet ist. Die Ataxie tritt im Wesentlichen als Störung der Grob- und Feinmotorik, des freien Gangs, des Standes und der Sprache in Erscheinung. Während für die Muskelschmerzen, die depressive Verstimmung und die Spastik hinreichende Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen, ist eine Behandlung der Ataxie nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht möglich. Der Angeklagte, der gegen seine Erkrankung neben der Einnahme von Vitaminen und Mineralien seit 1987 Cannabis konsumiert, erfuhr spätestens bei seinen seit 1995 regelmäßig etwa einmal im Jahr erfolgenden Aufenthalten in der Klinik Dr. E., einem Krankenhaus für Multiple Sklerose und andere Nervenstoffwechselleiden, von Mitpatienten, dass es Fallbeispiele gebe, bei denen Cannabis bei Symptomen der Ataxie hilfreich sein könne. In Ermangelung anderer Behandlungsalternativen wurde dem Angeklagten in der Vergangenheit einmal das in Deutschland erhältliche tetrahydrocannabinol-haltige Medikament Dronabinol verordnet, dessen Wirkung der Angeklagte als "durchschlagend" empfand. Da die gesetzliche Krankenkasse des Angeklagten die Kostenübernahme für dieses Präparat abgelehnte - insoweit ist ein sozialgerichtliches Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg anhängig - und der Angeklagte wirtschaftlich nicht in der Lage ist, sich Dronabinol in ausreichenden Mengen über Privatverordnungen seiner Ärzte zu beschaffen, steht ihm das Medikament zur Linderung seiner Koordinationsstörungen nicht zur Verfügung.
III.
Der Freispruch hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Annahme des Amtsgerichts, die Taten des Angeklagten nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 3, 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG seien als Notstandshandlungen jeweils gemäß § 34 StGB gerechtfertigt gewesen, wird durch die getroffenen Feststellungen nicht getragen.
1.
Im rechtlichen Ausgangspunkt nimmt das Amtsgericht allerdings zutreffend an aus, dass beim Umgang mit Betäubungsmitteln, die zur Abwendung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen konsumiert werden, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommt (vgl. KG StV 2003, 167; B. v. 01.11.2001 - (4) 1 Ss 39/01 (50/01); OLG Köln StraFo 1999, 314). Eine für ein anerkanntes Rechtsgut bestehende gegenwärtige Gefahrenlage i. S. des § 34 Satz 1 StGB hat der Tatrichter im angefochtenen Urteil ebenfalls rechtsfehlerfrei dargetan. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte als dauerhafte Folge einer Mitte der 80er Jahre aufgetretenen Multiple-Sklerose-Erkrankung unter anderem an Koordinationsstörungen im Sinne einer Ataxie, welche die Fein- und Grobmotorik, sowie den freien Gang, den Stand und die Sprache beeinträchtigen und nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ni...