Entscheidungsstichwort (Thema)
Begutachtung von Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule nach einem Unfall
Leitsatz (amtlich)
1. Sind nach einem Verkehrsunfall Wirbelsäulenverletzungen des Geschädigten streitig, ist eine Begutachtung durch einen erfahrenen Facharzt für Orthopädie notwendig.
2. Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule sind für einen orthopädischen Sachverständigen - und für das Gericht - grundsätzlich auch dann objektivierbar, wenn eine Dokumentation durch bildgebende Verfahren nicht möglich ist. Erforderlich ist eine sorgfältige Untersuchung durch den medizinischen Sachverständigen, bei der insbesondere die Anamnese eine wesentliche Rolle spielen muss.
3. Interdisziplinäre Gutachten nach der Konzeption von Mazzotti und Castro (vgl. die Darstellung in NZV 2008, 113 sowie Mazzotti/Castro u.a. in NZV 2013, 525 und NZV 2016, 263) sind aus methodischen Gründen bei Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule in der Regel wenig geeignet, verlässliche Feststellungen zu Unfallverletzungen zu treffen.
4. Persistierende Beschwerden nach einer mittelgradigen Distorsion der Lendenwirbelsäule sind auch dann durch das Unfallgeschehen verursacht, wenn bei der Entwicklung der Beschwerden bestimmte unfallunabhängige Dispositionen des Geschädigten (hier: ein Hohlrundrücken und psychosomatische Faktoren) eine Rolle gespielt haben (vgl. BGH, NJW 1996, 2425).
5. Führt eine mittelgradige Distorsion der Lendenwirbelsäule nach einem Verkehrsunfalle zu dauerhaften Beschwerden im Sinne eines Schmerzsyndroms mit Auswirkungen auf die Lebensführung im beruflichen und im privaten Alltag, kann ein Schmerzensgeld von 10.000 EUR gerechtfertigt sie.
Normenkette
ZPO § 253 Abs. 2, § 286 Abs. 1, § 287 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Konstanz (Aktenzeichen C 6 O 22/17) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Konstanz - C 6 O 22/17 - vom 30.08.2019 im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 534,78 EUR zu zahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.01.2016.
2. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger weiteren materiellen Schadensersatz in Höhe von 1.145,84 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 20.01.2016.
3. Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld zu zahlen - über den in Ziff. 1 enthaltenen Betrag von 450,00 EUR hinaus - in Höhe von 8.759,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 3.759,20 EUR seit dem 20.01.2016, und aus einem weiteren Teilbetrag in Höhe von 5.000,00 EUR seit dem 25.01.2017.
4. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen in Höhe von 10,23 EUR.
5. Es wird festgestellt, dass die Beklagten dem Kläger als Gesamtschuldner sämtliche weiteren materiellen Schäden zu ersetzen haben, die dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls vom 18.05.2015 künftig entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen.
6. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen der Kläger zu 1/5 und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 4/5.
IV. Das Urteil des Senats und das Urteil des Landgerichts - soweit dieses aufrechterhalten wird - sind vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall.
Am 18.05.2015 kam es im B. zu einem Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Fahrer eines Pkw Citroen und der Beklagte Ziff. 1 als Fahrer und Halter eines Pkw Skoda beteiligt waren. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung. Zu dem Unfall kam es, weil der Beklagte Ziff. 1 an der Einmündung der K.straße in die K xxxx die Vorfahrt des bevorrechtigten Klägers missachtete. Beide Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt; der Kläger erlitt Verletzungen, die im Einzelnen streitig sind.
Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht von den Beklagten materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld gefordert. Er habe erhebliche Verletzungen an der Halswirbelsäule und in weiteren Bereichen der Wirbelsäule erlitten. Es sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000,00 EUR angemessen. Durch den Unfall sei beim Kläger ein Dauerschaden entstanden. Er leide dauerhaft unter unfallursächlichen Schmerzen im Wirbelsäulenbereich mit erheblichen negativen Auswirkungen für ihn im Beruf und im Privatleben.
Die Beklagte Ziff. 2 hat vorgerichtlich einen Teil der vom Kläger geltend gemachten materiellen Schäden ersetzt und auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 790,80 EUR gezahlt; weitere Schmerzensgeldzahlungen hat die Beklagte abgelehnt.
Die Beklagten haben ihre v...