Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Kürzung der Sachverständigenvergütung ohne greifbaren Anhalt für überhöhte Rechnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein gerichtlich bestellter Gutachter hat den Parteivortrag zu den maßgeblichen Beweisfragen vollständig zur Kenntnis zu nehmen und umfassend zu prüfen und zu berücksichtigen. Ihm kann daher nicht angesonnen werden, die Akten nur kursorisch zu lesen. Die Zeit, die ein Richter für die Sichtung und Erfassung des Prozessstoffs benötigt, ist dabei kein geeigneter Vergleichsmaßstab, weil der anwaltlich aufbereitete Sachvortrag der Prozessbeteiligten sich einem Wissenschaftler einer anderen Fachrichtung (hier: Physiker) nicht derart schnell erschließen muss wie einem Jurist.

2. Die Kürzung der Stundenzahl für die Vorbereitung, Ausarbeitung und Korrektur des Gutachtens kann nur in Ausnahmefällen auf dessen geringen Umfang gestützt werden. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass die zur Beantwortung der Beweisfragen erforderliche Zeit mit der Seitenzahl des schriftlichen Gutachtens korrespondiert.

 

Normenkette

GG Art. 12; JVEG § 4; ZPO §§ 404a, 407, 407a, 411, 413

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Beschluss vom 22.10.2012; Aktenzeichen 16 O 125/10)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Sachverständigen Dr. XXX wird der Beschluss der 16. Zivilkammer des LG Koblenz vom 22.10.2012 geändert:

Die Vergütung für die unter dem 15.5.2012 in Rechnung gestellten Leistungen des Sachverständigen wird auf 2969,99 EUR festgesetzt.

2. Gerichtliche Gebühren werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.

 

Gründe

Der Sachverständige wendet sich mit seiner Beschwerde (§ 4 Abs. 3 JVEG) gegen die gerichtliche Festsetzung seiner Vergütung. Dabei hat das LG die Rechnung des Beschwerdeführers erheblich gekürzt und statt 8 Stunden für Aktenlektüre lediglich 4 Stunden zuerkannt und statt 24 Stunden für die Anfertigung des Gutachtens nur 8 Stunden zugebilligt.

Das zulässige Rechtsmittel hat umfassend Erfolg.

Der Senat hat bereits entschieden, dass bei der Vergütungsfestsetzung Zeitangaben eines Sachverständigen nicht durch kleinliche Gegenrechnung in Frage zu stellen sind. Korrekturbedarf besteht nur dann, wenn der berechnete Zeitaufwand ungewöhnlich hoch erscheint und greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er außer jedem Verhältnis zu der tatsächlich erforderlichen Leistung steht (OLG Koblenz vom 15.3.2011 - 14 W 150/11 - in JurBüro 2012, 261 - 262).

An Letzterem fehlt es hier. Die vom LG postulierte selektive Aktenlektüre könnte dazu führen, dass ein Sachverständiger den für die Beweisfrage maßgeblichen Tatsachenstoff nur unvollständig oder sonst fehlerhaft erfasst und seinen sachverständigen Feststellungen und Schlussfolgerungen zugrunde legt. Damit ist niemand gedient. Von einem gerichtlichen Sachverständigen wird verlangt, dass er das Parteivorbringen in allen Details mit größter Sorgfalt zur Kenntnis nimmt und sämtliche für das Beweisthema maßgeblichen Fakten berücksichtigt und erschöpfend würdigt.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die vom Sachverständigen für Aktenlektüre veranschlagten 8 Stunden soeben noch vertretbar. Der Sachverständige hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass sich der juristisch aufbereitete Parteivortrag einem Wissenschaftler einer ganz anderen Fachrichtung nicht immer ohne wiederholte Lektüre erschließt. Daher ist der Zeitaufwand, den ein Jurist für die Aktenlektüre benötigt, kein geeigneter Vergleichsmaßstab.

Dem LG kann auch nicht darin gefolgt werden, die berechneten 24 Stunden für die Fertigung des Gutachtens seien übersetzt, weil es einen Umfang von lediglich 6 Seiten habe.

Goethe wird die Mitteilung zugeschrieben "Heute habe ich keine Zeit, daher schreibe ich Dir einen langen Brief". Das spiegelt die Erkenntnis, dass im Schriftverkehr nichts schwieriger ist, als komplexe Sachverhalte und Fachfragen gleichermaßen präzise und knapp "auf den Punkt zu bringen". Der Vorhalt an den Sachverständigen, er habe lediglich 6 Seiten geschrieben, ist daher sachfremd. Dies gilt umso mehr, als es um physikalische und statische Fragen ging. Der Senat weiß, dass mit Bestnoten bewertete Doktorarbeiten im Fach Physik nicht selten einen Umfang von wenigen Seiten haben. Derartiges kann wegen seines geringen Umfangs nicht ernsthaft dem Verdikt ausgesetzt sein, es könne unmöglich ein erheblicher Arbeitsaufwand dahinterstecken.

Der Senat sieht sich außerstande, den vom Sachverständigen auf 24 Stunden veranschlagten Aufwand für das schriftliche Gutachten zu kürzen und den Umfang irgendeiner Kürzung tragfähig zu begründen. Dass die beabsichtigte Untersuchung der Bruchstellen der Leiter mit dem Rasterelektronenenmikroskop nicht möglich war, weil das Beweismittel von der Staatsanwaltschaft vernichtet worden ist, hat die Beantwortung der Beweisfrage eher erschwert.

Der vom LG zuerkannte Nettobetrag von 1015,99 EUR ist daher wie folgt zu erhöhen:

4 Stunden zu je 75 EUR für Aktenlektüre 300 EUR

16 Stunden zu je 75 EUR für Anfertigung des Gutachtens 1200 EUR

Das ergibt einen Nettobetrag von 2515,99 EUR

Addier...

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