Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf fortgesetzten Ausbildungsunterhalt besteht in der Konstellation "Lehre-Abitur-Studium" dem Grunde nach nicht nur, wenn bei Aufnahme der praktischen (Erst-)Ausbildung der Weiterbildungswunsch schon offenbar war, sondern auch dann, wenn sich im Zuge dieser (Erst-)Ausbildung herausstellt, dass zunächst eine Fehleinschätzung der Begabungen des Kindes vorlag, nämlich infolge einer "Nachreifung" des Kindes das Anstreben des Abiturs mit nachfolgendem Studium sich nunmehr durchaus als angemessene Ausbildung darstellt.
Normenkette
BGB § 1610 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Westerburg (Aktenzeichen 47 F 231/21) |
Tenor
Der Antrag des Antragsgegners vom 06.07.2022 auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen
Gründe
I. Der Antragsgegner begehrt Verfahrenskostenhilfe für die Durchführung eines Beschwerdeverfahrens. Er wurde durch das Amtsgericht - Familiengericht - Westerburg mit Beschluss vom 02.06.2022 verpflichtet, an seinen mittlerweile volljährigen Sohn beginnend ab dem 01.07.2021 weiteren Ausbildungsunterhalt in Höhe von 105% des Mindestunterhaltes zu zahlen. Er erstrebt mit seinem Rechtsmittel die Zurückweisung der Ausbildungsunterhaltsansprüche des Antragstellers.
Der am 06.03.2002 geborene Antragsteller besuchte nach der Grundschule zunächst die Orientierungsstufe der Realschule, musste dann jedoch aufgrund unzureichender Leistungen in den Hauptschulzweig wechseln. Hier erreichter er durch das "freiwillige 10. Schuljahr" den Sekundarabschluss I und begann zunächst eine Lehre zum Industriekaufmann, die er am 30.06.2021 abschloss. Bereits zuvor war in ihm der Wunsch gereift, sich zum Berufsschullehrer fortzubilden, weshalb er sich Anfang 2021 auf einem beruflichen Gymnasium bewarb, das er seit Sommer 2021 mit dem Ziel des Abiturs und einem daran anschließenden Studium der Wirtschaftspädagogik besucht.
Der Antragsgegner, der seine Einstufung in die zweite Einkommensstufe der Düsseldorfer Tabelle und die Leistungsunfähigkeit der Kindesmutter nicht in Frage stellt, ist der Auffassung, es handelte sich hierbei um eine von ihm nicht zu finanzierende Zweitausbildung.
II. Die nachgesuchte Verfahrenskostenhilfe war nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 114, 119 Abs. 1 ZPO abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg hat.
Dem Antragsgegner ist zwar zuzugeben, dass in der Konstellation "Lehre-Abitur-Studium" ein Anspruch auf fortgesetzten Ausbildungsunterhalt nur ausnahmsweise besteht (BGH FamRZ 2006, 1100 m. w. Nachw.; OLG Celle NJW 2013, 2688 m. w. Nachw.). Dies ist aber nicht nur dann der Fall, wenn bei Aufnahme der praktischen (Erst-)Ausbildung der Weiterbildungswunsch schon offenbar war, sondern auch dann, wenn sich im Zuge dieser Ausbildung herausstellt, dass zunächst eine Fehleinschätzung der Begabungen des Kindes vorlag.
So verhält es sich hier:
Der bei Aufnahme seiner Lehre erst 16-jährige Antragsteller zeigte damals - durchaus alterstypisch - eine gewisse Schulmüdigkeit, so dass die Aufnahme der kaufmännischen Lehre aus damaliger Sicht sicher der konsequente und richtige Schritt war. Indes ist die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes auch mit Erreichen der Volljährigkeit und selbst mit Vollendung des 21. Lebensjahres noch nicht abgeschlossen, sondern eine "Nachreifung" möglich und durchaus üblich, so dass die vom Antragsteller geschilderte Entwicklung nachvollziehbar und für den Antragsgegner auch nicht völlig unvorhersehbar gewesen ist.
Dementsprechend gibt es keine feste Altersgrenze für die Aufnahme und die Beendigung einer Ausbildung, ab deren Erreichen der Anspruch auf Ausbildungsunterhalt entfällt. Die Frage, bis wann es dem Unterhaltsberechtigten obliegt, seine Ausbildung aufzunehmen und abzuschließen, richtet sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Maßgeblich hierfür ist, ob den Eltern unter Berücksichtigung aller Umstände die Leistung von Ausbildungsunterhalt in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit noch zumutbar ist. Dabei wird die Zumutbarkeit nicht nur durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern bestimmt, sondern auch durch die Frage, ob und inwieweit sie damit rechnen müssen, dass ihr Kind weitere Ausbildungsstufen anstrebt. Denn die Elternverantwortung tritt dem Grundsatz nach immer mehr zurück, je älter ein Kind bei Aufnahme einer (weiteren) Ausbildung ist und je eigenständiger es seine Lebensverhältnisse gestaltet (BGH FamRZ 2017, 1132 Rn. 15-16 m. w. Nachw.).
Danach konnte sich der Antragsgegner hier nicht darauf einstellen, dass der berufliche Werdegang des damals 19-jährigen Antragstellers mit dem Abschluss als Industriekaufmann abgeschlossen ist, denn auch Kinder, die von vornherein das Gymnasium besucht haben, haben in diesem Alter vielfach noch nicht das Abitur, geschweige denn eine konkrete Vorstellung, welchen Beruf sie letztlich anstreben.
Von einer Verselbständigung des Antragstellers, der immer noch "unter einem Dach" mit seiner Mutter lebt, kann auch nicht au...