Leitsatz (amtlich)

  • 1.

    Grundsätzlich kann wegen der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK ein Widerruf gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB nur dann erfolgen, wenn die erneute Straftat rechtskräftig festgestellt ist.

  • 2.

    Die Unschuldsvermutung hindert das Gericht aber dann nicht am Widerruf, wenn Täterschaft und Schuld auf Grund eines glaubhaften Geständnisses, also in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise, feststehen.

  • 3.

    Für den Erlass eines Sicherungshaftbefehls genügt es, dass der Widerruf nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn hinsichtlich der neuen Straftaten, derentwegen gegen den Verurteilten zurzeit ermittelt wird, jedenfalls dringender Tatverdacht i. S. von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht.

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Aktenzeichen BRs 50/02)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den undatierten, vermutlich am 22. August 2003 erlassenen Beschluss (Sicherungshaftbefehl) der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts Koblenz wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 S. 1 StPO) als unbegründet verworfen.

 

Gründe

Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage.

Die Ausführungen des Verurteilten in seiner Beschwerdeschrift liegen überwiegend neben der Sache.

Soweit er die im Sicherungshaftbefehl aufgeführten neuen Straftaten bestreitet, gilt Folgendes:

Zwar wird wegen der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK) ein Widerruf nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Regel nur dann erfolgen können, wenn die erneute Straftat rechtskräftig festgestellt ist (EGMR, Urt. v. 03.10.2002 m.w.N. aus seiner Rspr.). Soweit die Senatsentscheidung vom 9. Januar 1991 (NStZ 91,253) dahin verstanden werden könnte, dies habe ausnahmslos zu gelten (so das - ablehnende - Zitat bei Meyer-Goßner, StPO, 46. A., § 453 c Rdnr. 4), also auch in Fällen, in denen sogar ein Geständnis des Verurteilten vorliegt, ist darauf hinzuweisen, dass der Senat am 9. Januar 1991 über einen (Geständnis-)Fall nicht zu befinden hatte und im Übrigen auch nach jener Entscheidung in einer Vielzahl von Fällen stets die Auffassung vertreten hat, dass die Unschuldsvermutung das Gericht jedenfalls dann nicht am Widerruf hindere, wenn Täterschaft und Schuld auf Grund eines glaubhaften Geständnisses, also in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise, feststehen (vgl. nur Senat, 1 Ws 86/97 vom 18.02.1997, 1 Ws 137/97 v. 10.03.1997und 1 Ws 374/97 v. 18.06.1997; in diesem Sinne auch EGMR a.a.O.. Abschn. 65 unter Berufung auf seine unveröffentlichten Entscheidungen Nr. 12380/86 v. 05.10.1988, Nr. 12669/87 v. 11.10.1988 und Nr. 15871/89 v. 09.10.1991).

Im vorliegenden Fall kommt es darauf allerdings nicht entscheidend an. Denn hier geht es nicht um die Widerrufsentscheidung als solche, sondern lediglich darum, sich gem. § 453 c Abs. 1 StPO der Person des Verurteilten für den Fall des Widerrufs zu versichern. Dazu ist nicht erforderlich, dass der Widerruf bereits feststeht; es genügt, dass er nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (Meyer-Goßner a.a.O.. Rdnr. 3 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist hier schon deshalb gegeben, weil hinsichtlich der neuen Straftaten, derentwegen gegen den Verurteilten zurzeit ermittelt wird, jedenfalls dringender Tatverdacht i. S. von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht und es ein Wertungswiderspruch wäre, diesen Umstand zwar für einen Haftbefehl nach § 112 StPO, nicht jedoch für die Wahrscheinlichkeit eines Widerrufs als Voraussetzung für einen Sicherungshaftbefehl nach § 453 c Abs. 1 StPO (sofern dessen übrige Voraussetzungen vorliegen) ausreichen zu lassen.

Der dringende Tatverdacht bezüglich der dem Verurteilten nunmehr zur Last gelegten neuen Delikte (Trunkenheit im Verkehr, Fahren ohne Fahrerlaubnis) ergibt sich daraus, dass Polizeibeamte ihn am 2. Juli 2003 um 03.30 Uhr ohne Fahrerlaubnis, jedoch mit 1,75 Promille Alkohol in der Atemluft (späterer Blutproben-Mittelwert: 1,51 mg/g) am Steuer seines Fahrzeugs, dessen Motor und Auspuff noch warm waren, an einem Ort, an dem er nicht wohnte, angetroffen haben, dass er hierfür als Erklärung angab, von einem Unbekannten dorthin chauffiert worden zu sein (und weitere Erläuterungen dazu verweigerte), und dass zwei Zeuginnen kurz zuvor der Polizei gemeldet hatten, er sei gerade eben vor ihrem Haus in betrunkenem Zustand in sein Auto gestiegen und mit diesem weggefahren. Später, so die Zeuginnen am nächsten Tag in einer Anzeige, sei er in ihre Wohnung gekommen und habe eine von ihnen mehrfach ins Gesicht geschlagen.

Angesichts dieser erdrückenden Beweislage ist eine Verurteilung des Beschwerdeführers mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Es ist auch anzunehmen, dass es zum Widerruf der Strafaussetzung kommen wird. Selbst wenn die Strafvollstreckungskammer sich wegen des Bestreitens des Verurteilten angesichts des unlängst in Umlauf gelangten Urteils des EGMR vom 03.10.2002 gehindert sehen sollte, die ...

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