Leitsatz (amtlich)
Es liegt ein grober Organisationsfehler vor, wenn nicht sichergestellt wird, dass bei der hausärztlichen Versorgung ein Laborbefund sowie die in der Praxis erhobene Blutsenkungsgeschwindigkeit auch ohne Patientenkontakt zur Kenntnis genommen, ausgewertet und erforderlichenfalls nach Kontaktaufnahme zum Patienten mit diesem besprochen werden.
Allein der Umstand, dass ein Patient einen Laborbefund einfach persönlich in der Praxis abholt und damit ein Arzt-Patient-Gespräch verhindert, begründet kein Mitverschulden im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB.
Allein ein möglicherweise vorliegender grober Behandlungsfehler des nachbehandelnden Arztes beeinträchtigt die Zurechnung der kausalen Schadensfolgen gegenüber dem erstbehandelnden Arzt nicht. Die wertende Zuordnung der Schadensfolgen zum Verhalten des nachbehandelnden Arzt kommt nicht in Betracht, wenn die Behandlung durch dessen mutmaßliches Fehlverhalten nicht in eine völlig neue Richtung gelenkt wurde, das durch die Fehlbehandlung des erstbehandelnden Arztes gesetzte Risiko nicht abgeklungen war und beide Fehlverhalten zumindest gleichwertig nebeneinander stehen.
Leidet die Mutter der kurz nach Diagnosestellung an Leukämie verstorbenen Tochter anschließend an psychischen Beschwerden, die mit einer weitreichenden Isolierung, dem nahezu völligen Verlust von Lebensfreude sowie einer Beeinträchtigung der Lebensfähigkeit dahin, dass sie gefüttert werden musste, einhergehen, kann dies nicht mehr als "normales Lebensrisiko" eingeordnet werden.
Verfahrensgang
LG Koblenz (Aktenzeichen 10 O 105/13) |
Tenor
1. Der Senat weist die Parteien darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 15. März 2017 einstimmig gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Der Beklagte und sein Streithelfer können zu den Hinweisen des Senats Stellung nehmen bis zum 23. Oktober 2017. Die Rücknahme der Berufung wird empfohlen.
Gründe
I. Die Kläger verlangen materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit allgemeinmedizinischer Versorgung durch den Beklagten aus eigenem sowie ererbtem Recht.
Die 1985 geborene Tochter der Kläger stellte sich am 11. August 2009 bei dem Beklagten, der sie hausärztlich betreute, vor. Mit Blick auf eine anstehende Kieferoperation wurde eine Blutentnahme zur Untersuchung der Laborwerte vorgenommen. Die Laborwerte zeigten eine Anämie und eine Leukopenie und das Differenzialblutbild eine Anisozytose, auffällige Riesenthrombozyten und drei Blasten sowie eine Poikilozytose. Eine Besprechung der Laborwerte durch den Beklagten erfolgte nicht. Dieser nahm die Laborwerte auch nicht selbst zur Kenntnis. Wenige Tage später wurde der beabsichtigte kieferchirurgische Eingriff durch den Streithelfer des Beklagten in den Räumlichkeiten der Streithelferin durchgeführt.
Am 8. Februar 2010 stellte sich die Tochter der Kläger notfallmäßig im ...-Krankenhaus in A. mit Gliederschmerzen, Muskelschmerzen und trockenem Husten vor. Mit der Verdachtsdiagnose akuter Leukämie wurde sie am 10. Februar 2010 in die ...-Klinik nach B. verlegt. Dort stellten die behandelnden Ärzte die Diagnose einer unreifen akuten biologischen Leukämie bei bestehender Lungenentzündung. Am 18. Februar 2010 kam es zu einem ausgedehnten Hirninfarkt, an welchem die Tochter der Kläger verstarb. Sie wurde von den Klägern beerbt.
Die Kläger haben zur Begründung ihres auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus ererbtem Recht wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihrer Tochter sowie eines Schmerzensgeldes für die Klägerin zu 1) und den Kläger zu 2) infolge des Todesfalls erlittener Schäden, auf Ersatz der Beerdigungskosten in Höhe von 7.108 EUR, auf Erstattung der angefallenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.161,99 EUR sowie auf Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten für sämtliche künftigen materiellen Schäden der Kläger gerichteten Begehrens vorgetragen, der Beklagte hätte zwingend von den Laborwerten Kenntnis nehmen und ihre Tochter informieren müssen. Notfalls hätte er eigenständig zu ihr Kontakt aufnehmen müssen. Eine Kenntnisnahme von den Laborwerten hätte zu einer Überweisung an einen Hämatologen geführt. In der entsprechenden Unterlassung liege die Ursache für den späteren Todeseintritt. Die Heilungschancen im August 2009 seien deutlich besser gewesen als bei Diagnosestellung im Februar 2010. Ihre Tochter habe infolge der unterlassenen Auswertung der Laborwerte monatelang unter starken Beschwerden (Abgeschlagenheit, Muskelschmerzen und Gliederschmerzen) gelitten. Ihre Leistungsfähigkeit sei eingeschränkt gewesen. Nach der Verlegung in die ...-Klinik in B. sei es ihr immer schlechter gegangen und ihr hätten Opiate verabreicht werden müssen. Die Klägerin zu 1) leide seit dem Tod ihrer Tochter unter schwersten Depressionen und massiven psychosomatischen Beschwerden. Noch heute bestünden Schlaf- und Essstörungen. Ihre berufliche Tätigkeit habe sie weitgehend aufgeben müssen und erst rund zwei Jah...