Leitsatz (amtlich)
1. Vorrangige Maßnahmen nach § 1666a BGB sind die öffentlichen Hilfen nach den §§ 11 bis 40 SGB VIII. Das Gericht kann gegenüber den Eltern anordnen, solche Hilfen in Anspruch zu nehmen, wenn sie sich im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als milderes Mittel darstellen.
2. Das Jugendamt hat grundsätzlich in eigener Verantwortung die Eignung öffentlicher Hilfen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung zu beurteilen und sie anzubieten, § 8a SGB VIII. Andererseits ist dem Familiengericht das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG in eigener Verantwortung auferlegt. Es besteht eine Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt sowie die Pflicht zu einer kooperativen Zusammenarbeit. Gelingt die vorrangige Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt nicht, besteht zwingend eine Letztverantwortlichkeit und ein Letztentscheidungsrecht des Familiengerichts.
3. Eine Sorgerechtsentzug nach §§ 1666, 1666a BGB ist nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn es Eltern nicht gelingt, ihre Erziehungsfähigkeit nachzuweisen.
Normenkette
BGB §§ 1666, 1666a; SGB VIII § § 8a, § § 11 ff., § 42; GG Art. 6
Verfahrensgang
AG (Beschluss vom 02.04.2012; Aktenzeichen 70 F 152/12 eA) |
Tenor
Die Beschwerde des Jugendamts gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - vom 2.4.2012 wird zurückgewiesen mit den Maßgaben, dass festgestellt wird, dass die Anordnung Nr. 4 in dem Beschluss erledigt ist, und dass die Anordnungen Nr. 5 und 6 in dem Beschluss aufgehoben werden.
Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten findet nicht statt.
Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Das Kind wurde am 8.3.2012 im Klinikum geboren. Die Kindeseltern leben zusammen und sind nicht miteinander verheiratet. Die Kindesmutter hat zwei weitere Kinder aus einer anderen Beziehung, die Töchter, geboren am 17.10.1990, und, geboren am 1.8.1995. Die Tochter Juliana erhielt von August 2010 bis Mai 2011 stationäre Erziehungshilfe.
Das betroffene Kind wurde am 9.3.2012 von dem Stadtjugendamt in Obhut genommen und in die Kinderklinik verlegt.
Mit Beschluss vom 14.3.2012 hat das AG Koblenz auf eine Gefährdungsanzeige des Jugendamts der allein sorgeberechtigten Kindesmutter das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Zuführung zu medizinischen Behandlungen und das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen für das betroffene Kind entzogen. Am selben Tag wurde in eine Bereitschaftspflege gegeben.
Am 2.4.2012 hat das AG Andernach nach Durchführung eines Anhörungstermins und Vernehmung von drei Zeugen die einstweilige Anordnung aufgehoben, der Kindesmutter aufgegeben, bis spätestens 16.4.2012 öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, und für den Fall der fristgerechten Beantragung der sozialpädagogischen Familienhilfe durch die Kindesmutter dem Jugendamt aufgegeben, das Kind bis zum 17.4.2012 herauszugeben. Bis zur Herausgabe solle das Kind zur Vorbereitung der Rückführung täglichen Umgang mit dem Kind für die Dauer von mindestens einer Stunde haben. Das AG hat ferner dem Jugendamt nach Herausgabe des Kindes regelmäßige Kontrollbesuche im Haushalt der Kindesmutter und die Genehmigung des Einsatzes einer sozialpädagogischen Familienhilfe mit einem Stundenaufwand von mindestens dreimal wöchentlich 2 Stunden aufgegeben. Das Kindeswohl sei aufgrund der psychischen Labilität der Kindesmutter gefährdet. Dieser Gefährdung des Kindeswohls könne nach den derzeitigen Erkenntnissen durch den Einsatz einer sozialpädagogischen Familienhilfe begegnet werden, eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie sei nicht erforderlich. Daher sei die Herausgabe des Kindes an die Bereitschaft der Kindesmutter zu knüpfen, eine sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen. Vor dem Hintergrund, dass das Kind bereits vor mehr als drei Wochen in Obhut genommen worden sei, sei es erforderlich, die Umgangskontakte zur Vorbereitung des Kindes auf eine Rückführung zu der Mutter auszuweiten.
Das AG hat von Amts wegen ein Hauptsacheverfahren nach § 1666 BGB eingeleitet und beabsichtigt, im Rahmen dessen ein Sachverständigengutachten einzuholen zur Klärung der Frage, welchem Krankheitsbild die psychische Labilität der Kindesmutter zuzuordnen ist und welche Maßnahmen zum Wohle des Kindes geboten sind.
Die Kindesmutter stellte am 5.4.2012 einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung, den sie wie folgt einschränkte: Die Passage "der Maßnahme gingen eingehende Gespräche voraus, in denen die Fachkraft des Jugendamtes mich eingehend über die für mein Kind in Frage kommende Unterbringung/Hilfe informiert hat" wurde gestrichen und ersetzt durch den handschriftlichen Vermerk "Informationsgespräche gab es nicht". Vor der Unterschrift der Kindesmutter wurde handschriftlich die Zeile eingefügt: "Entsprechend Beschluss des AG vom 2.4.2012. Bei anderweitiger Entscheidung des OLG wird Antrag ...