Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung und Beweispflicht des Arztes nach proktologischem Befunderhebungsversäumnis
Leitsatz (amtlich)
1. Führen zunehmende Analschmerzen zu einem stationären Krankenhausaufenthalt, wo man erneut computertomographisch einen Abszess diagnostiziert, jedoch wegen Besserung der Beschwerdesituation eine spontane Perforation und Entleerung des Abszesses in das Rektum unterstellt und daher von der gebotenen zielführenden weiteren Diagnostik unter Narkose absieht, kann darin ein Befunderhebungsversäumnis zu sehen sein, das zur Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten führt, sofern ein reaktionspflichtiger Befund überwiegend wahrscheinlich ist (hier bejaht). Die Beweislastumkehr setzt nicht voraus, dass der Befunderhebungsfehler als grob einzuschätzen ist. Eine entsprechende Qualifizierung ist entbehrlich, wenn es fundamental regelwidrig gewesen wäre, auf das wahrscheinliche Befundergebnis nichts zur Abhilfe zu unternehmen.
2. Die Behandlungsseite ist in einem derartigen Fall auch beweisbelastet hinsichtlich des weiteren Kausalverlaufs bei sachgemäßem Handeln. Nur wenn eine günstigere Entwicklung nach fachmedizinischer Einschätzung äußerst unwahrscheinlich ist, haftet sie für die Folgen des Befunderhebungsversäumnisses nicht.
3. Die Empfehlung, sich "in drei Wochen wieder vorzustellen" entlastet die Behandlungsseite nicht, begründet auch kein Mitverschulden des Patienten, sofern bereits der bloße Aufschub der gebotenen zielführenden Untersuchung unvertretbar war.
4. Etwaige Versäumnisse und Fehler eines nachbehandelnden Arztes entlasten den Erstschädiger nicht, es sei denn, der zweite Arzt hat seinerseits in nicht vorhersehbarer Weise grob pflichtwidrig gehandelt (hier verneint).
5. Zur Schmerzensgeldbemessung bei dauerhaft verbleibenden proktologischen Ausfällen und Beschwerden (50.000 EUR).
6. Wegen der Kosten eines prozessbezogen eingeholten ärztlichen Privatgutachtens darf der Patient nicht mangels Rechtsschutzinteresse auf das Kostenfestsetzungsverfahren nach § 104 ZPO verwiesen werden (Klarstellung und Ergänzung zu BGH IX ZR 148/88 und OLG Koblenz 14 W 165/02).
Normenkette
BGB §§ 249, 253-254, 276, 278, 280, 611, 630h Abs. 3, §§ 823, 831; ZPO §§ 91, 104, 253, 286
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 21.05.2014; Aktenzeichen 10 O 334/09) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 21.5.2014 in Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels dahin geändert, dass unter Zurückweisung der Klage im Übrigen
a. die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner verurteilt werden, der Klägerin
aa. ein Schmerzensgeld von 50.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3.12.2009,
bb. zum Ausgleich von Prozessvorbereitungskosten 2.468,82 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3.12.2009 und
cc. zum Ausgleich vorgerichtlicher Anwaltskosten 1.880,20 EUR zu zahlen,
sowie
b. die gesamtschuldnerische Ersatzpflicht der Beklagten zu 1) bis 3) für alle weiteren Schäden festgestellt wird, die aus der mangelnden Befunderhebung während der Krankenhausbehandlung der Klägerin in der Zeit vom 1. bis zum 4.11.2002 herrühren, soweit es keinen Anspruchsübergang auf Drit- te gegeben hat oder geben wird.
2. Die Gerichtskosten des Rechtsstreits treffen die Klägerin und die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner zu je 1/2. Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten zu 1) bis 3) die Hälfte als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 4) bis 6) fallen der Klägerin zur Last.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung der Gegenseite durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags abwenden, soweit diese nicht Sicherheit in entsprechender Höhe stellt.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin wurde am 21.1.2002 mit Beschwerden im Analbereich im Krankenhaus der Beklagten zu 1) aufgenommen, in dem die Beklagten zu 2) und zu 3) ärztlich tätig waren. Ein CT offenbarte einen hinter dem Rektum gelegenen Abszess, den der Beklage zu 2) am Folgetag eröffnete. Bald darauf wurde die Klägerin mit der an den Hausarzt gerichteten Empfehlung, gegebenenfalls rektoskopische Untersuchungen in die Wege zu leiten, aus der stationären Behandlung entlassen.
Am 1.11.2002 meldete sich die Klägerin wegen zunehmender Analschmerzen wieder bei der Beklagten zu 1), wo man erneut computertomographisch einen Abszess diagnostizierte. Als sich die Beschwerdesituation besserte und eine Rektoskopie vom 4.11.2002 - nach einer wenig aufschlussreichen Untersuchung am Vortag - keinen Hinweis auf Fistelgänge ergab, verließ die Klägerin das Krankenhaus. Man war von einer spontanen Perforation und Entleerung des Abszesses in das Rektum ausgegangen. In einem Schreiben an den Hausarzt erbat die Beklagte zu 1) zur Befundkontrolle eine Wiedervorstellung in drei Wochen. Ob das der Klägerin auch persönli...