Entscheidungsstichwort (Thema)
(Zur Abgrenzung des einfachen vom groben Diagnoseirrtum. Befunderhebungspflicht bei paarigen Organen. Morbus Perthes)
Leitsatz (amtlich)
1. Erkennt der Arzt einen Leitbefund nicht, weil andere Fakten die tatsächlich vorliegende Erkrankung wenig wahrscheinlich machen, und gelangt er daher zu einer unrichtigen Diagnose, liegt darin kein haftungsbegründendes Fehlverhalten, wenn er auch die von ihm veranlasste weitere Befunderhebung (Knochenszintigraphie) als ausreichend ansehen durfte, diese kein richtungweisendes Ergebnis hatte und auch keine weitere Sachaufklärung gebot (hier: Absterben des Hüftkopfes bei einem 12-jährigen Kind)
2. Dass ein Diagnoseirrtum nach den zum Untersuchungszeitpunkt maßgeblichen Erkenntnismöglichkeiten als grober Fehler zu würdigen ist, muss der Patient beweisen.
Normenkette
BGB §§ 249, 253, 276, 611, 823; ZPO § 286
Verfahrensgang
LG Bad Kreuznach (Entscheidung vom 02.06.2010; Aktenzeichen 2 O 439/07) |
Tenor
1.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 02.06.2010, Az. 2 O 439/07, geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
2.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt von dem Beklagten immateriellen Schadensersatz und die Feststellung der künftigen materiellen und immateriellen Schadensersatzpflicht wegen einer behaupteten fehlerhaften ärztlichen Behandlung.
Beim zu diesem Zeitpunkt übergewichtigen Kläger traten zum Ende des Jahres 2003 Schmerzen im rechten Knie auf, die zu einem Schonverhalten beim Auftreten führten. Der Beklagte untersuchte den Kläger darauf am 15.03.2004. Laut Patientendokumentation ergab die Untersuchung keine auffällige Beinlängendifferenz, jedoch ein nach hinten gedrücktes Knie sowie eine mäßige x-Beinstellung mit Innenrotation beider Unterschenkel. Weiterhin konnte eine Oberschenkelmuskelverkürzung rechts mehr als links und eine Hypotonie des Bizeps festgestellt werden. Insgesamt fand sich keine Auffälligkeit im Kniegelenk. Ein Humpeln sowie Auffälligkeiten in der Hüfte sind nicht dokumentiert.
Wegen anhaltender, insbesondere bei Belastung auftretender Schmerzen im Knie kam es am 14.04.2004 zu einer erneuten Vorstellung bei dem Beklagten. Er veranlasste die Fertigung von Röntgenbildern des rechten Oberschenkels und des rechten Knies, wobei auch die rechte Hüfte abgebildet wurde. Auf dieser Grundlage stellte er einen unauffälligen Skelettbefund fest. Zum Ausschluss eines Ermüdungsbruchs ließ er zudem eine Skelettszintigrafie durch den Radiologen Dr. D. anfertigen. In dessen Befundbericht vom 22.04. 2004 wird eine bandförmige Mehrbelegung im Schultergelenk, im Ellenbogengelenk und Handgelenk beidseitig, sowie in beiden Kniegelenken und beiden oberen Sprunggelenken beschrieben. Weiterhin sah er eine diskrete Mehrbelegung im rechten Hüftgelenksabschnitt in Projektion auf den Hüftkopf. Im Vergleich zu den Röntgenaufnahmen vom 14.04.2004 beurteilte er den Befund nur als diskrete Asymmetrie der Belegung ohne Focus und ohne Hinweis auf eine Mehranreicherung, was typisch für einen Ermüdungsbruch wäre. Der Beklagte verschrieb dem Kläger daraufhin weitere krankengymnastische Behandlungen. Die Schmerzen des Klägers hielten jedoch an. Am 23.04.2004 erfolgte eine erneute Vorstellung beim Beklagten wegen Knieschmerzen. Der Kläger bewegte sich wegen der Beschwerden bereits mit Gehstützen.
Im Mai 2004 wandten sich die Eltern des Klägers auf eigene Initiative an einen Orthopäden. Dieser erstellte eine Magnetresonanztomographie (MRT) des rechten Knies. Nach Schilderung der Beschwerden schlug der Orthopäde eine Überweisung an einen Chirurgen zwecks Operation des rechten Knies vor. Der Beklagte lehnte die Durchführung einer Knieoperation jedoch ab. Am 25.05.2004 erfolgte eine weitere Untersuchung des Kniegelenks durch den Beklagten. Über Schmerzen des Klägers in der Hüfte wurde dabei nichts dokumentiert. Am 28.09.2004 und am 01.10.2004 wurde der Kläger erneut vorstellig und klagte über Schmerzen im Knie. Der Beklagte verordnete jeweils Krankengymnastik.
Am 15.12.2004 wandte sich der Kläger schließlich an den Beklagten und klagte über Hüftbeschwerden. Der Beklagte veranlasste eine weitere Fertigung von Röntgenbildern. Es wurden Aufnahmen der rechten Hüfte in 2 Ebenen, der linken Hüfte in 2 Ebenen sowie eine Beckenübersicht erstellt. Nach Bewertung der Röntgenunterlagen diagnostizierte der Beklagte keinen Befund an der linken Hüfte, jedoch eine fast völlige Zerstörung des Gelenkknorpels der rechten Hüfte. Er stellte auch fest, dass der Gelenkkopf in der rechten Hüfte seitlich der Pfanne saß. Daraufhin zog er den Orthopäden Dr. St. hinzu, stellte die Diagnose "Morbus Perthes rechte Hüfte" und überwies den Kläger in die orthopädische Abteilung des städtischen Klinikums Frankfurt/Main. Am 03.01.2005 schlug der dort behandelnde Arzt Dr. W. als Therapiemaßnahme vor, das gesamte Becken des Klägers mit Gips zu fixieren. F...