Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuer Tatsachenstoff im Arzthaftungsprozess zweiter Instanz; Diagnosefehlers eines Radiologen ist nachbehandelndem Hausarzt nur in Ausnahmefällen zuzurechnen
Leitsatz (amtlich)
1. Ergibt ein neues Gutachten im Berufungsverfahren des Arzthaftungsprozesses, dass alle bisherigen Diagnosen und Behandlungsmaßnahmen einschließlich der gutachterlichen Feststellungen und Schlussfolgerungen unzutreffend waren, ist dieser völlig neue Tatsachenstoff zu berücksichtigen, wenn die Parteien die Erkenntnisse des Zweitgutachters unstreitig stellen. Auf dieser neuen Tatsachengrundlage ist sodann zu prüfen, ob der beklagte Arzt haftet.
2. Ein Hausarzt, der es unterlässt, das Ergebnis einer kurz zuvor durchgeführten radiologischen Untersuchung zu erfragen und zu berücksichtigen, haftet für Diagnosefehler in diesem Bereich nicht, wenn feststeht, dass der Radiologe dem Kollegen fehlerhaft mitgeteilt hätte, der Befund sei unverdächtig.
3. Nur wenn der Hausarzt ohne weiteres erkennen musste, dass gewichtige Bedenken gegen das diagnostische und therapeutische Vorgehen des Radiologen bestanden, kommt eine Zurechnung des Diagnoseirrtums in Betracht.
Normenkette
ZPO §§ 130, 138, 253 Abs. 2 Nr. 2, §§ 261, 263-264, 529; BGB §§ 249, 276, 278, 611, 823, 847
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 25.11.2005; Aktenzeichen 10 O 256/03) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Koblenz vom 25.11.2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens, eingeschlossen die Kosten der Streithilfe, zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagten oder deren Streithelfer gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern diese nicht ihrerseits zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger befand sich seit 1998 in hausärztlicher Behandlung bei den Beklagten, die eine Gemeinschaftspraxis betreiben. In der Zeit von Mai bis Juli 2000 wurde er von dem Beklagten zu 1) (künftig: Der Beklagte) wegen Schmerzen im Bein und später auch Miktionsbeschwerden behandelt. Im Juni 2000 fand eine vom Beklagten veranlasste urologische Untersuchung durch Dr. H. statt. Der Urologe verwies den Kläger seinerseits zu einer weiteren neurologischen Abklärung an Dr. S.
Am 13.7. und am 17.7.2000 stellte sich der Kläger erneut bei dem Beklagten vor. Der Beklagte diagnostizierte am 13.7.2000 ein myostatisches LWS-Syndrom und äußerte den Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall L 5/S 1 rechts. Er hatte den Kläger nach dem urologischen, nicht aber nach dem neurologischen Befund befragt. Die neurologische Untersuchung vom 9.6.2000, sowie eine bildgebende Diagnostik in Form eines Kernspintomogramms der Wirbelsäule und des Schädels am 16.6.2000, waren als unauffällig befundet worden.
Welche Beschwerden der Kläger dem Beklagten am 13.7.2000 schilderte, ist streitig. Am 17.7.2000 erschien der Kläger und gab an, seine Rückenschmerzen hätten zugenommen. Zur Schmerzlinderung verabreichte der Beklagte eine Injektion mit 4 mg Dexametason. Als der Kläger am folgenden Tag stark bewegungseingeschränkt in der Praxis des Beklagten erschien, diagnostizierte dieser einen Spinalarterieninfarkt und überwies den Kläger an das Institut Dr. M. zum CT der Lendenwirbelsäule. Noch am 18.7.2000 wurde der Kläger in der neurologischen Abteilung des B.-Krankenhauses in Koblenz stationär aufgenommen. Die neurologische Symptomatik wurde dort als intramedulläre thorakale Läsion des thorakalen Myelons, letztlich als eine Myelitis transversa (querschnittsartige Entzündung des Rückmarks) interpretiert und behandelt.
Der Kläger hat dem Beklagten in erster Instanz vorgehalten, am 13.7.2000 sei eine Herpesinfektion sichtbar gewesen. Deshalb und wegen der bereits manifesten Taubheitsgefühle am rechten Oberschenkel und an beiden Gesäßbacken sei schon an diesem Tag die Einweisung zur stationären Behandlung geboten gewesen. Die am 17.7.2000 verabreichte Injektion mit Dexametason sei wegen der Herpesinfektion grob fehlerhaft gewesen. Infolge dessen sei es zu einer Herpes simplex-Myelitis gekommen, die dann am 18.7.2000 zu dem Spinalarterieninfarkt geführt habe.
Das LG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen und ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bereits am 13.7.2000 über Taubheitsgefühle im rechten Bein und in den Gesäßbacken geklagt habe, ebenfalls nicht, dass Herpesbläschen sichtbar gewesen seien. Selbst wenn der Beklagte sich nach dem Ergebnis der neurologischen Untersuchung erkundigt hätte, sei es spekulativ, dass eine frühzeitigere Einleitung der Behandlung bzw. eine frühzeitigere stationäre Einweisung ein besseres Ergebnis als das aktuell vorliegende gebracht hätte.
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger vorbringt, der Beklagte wäre verpflichtet gewesen, sich am 13.7.2000 über das Ergebnis der Untersuchung beim Neurologen Dr. S. durch Nachfrage bei diesem zu erkund...