Leitsatz (amtlich)
Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne der Generalklausel einer Beiordnung vor, wenn dem Angeklagten ein qualifiziertes Körperverletzungsdelikt zur Last gelegt wird, sich das Tatopfer dem Verfahren als Nebenkläger anschließt und sich auf eigene Kosten eines anwaltlichen Beistandes bedient, wenn dadurch ein prozessuales Ungleichgewicht geschaffen wird. Ein solches Ungleichgewicht ist anzunehmen, wenn eine gesetzliche Mindeststrafe für den Tatvorwurf bei gleichzeitiger Möglichkeit der Annahme eines minder schweren Falles gegeben ist, da damit Verteidigungsmöglichkeiten eröffnet sind, die der Rechtskunde bedürfen und denen der gegnerische Anwalt entgegentreten kann, ohne dass dem Angeklagten dies bewusst werden kann.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Aachen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch das angefochtene Urteil hat das Amtsgericht den Angeklagten wegen "vorsätzlicher Körperverletzung" zu einer Geldstrafe von 90 Monaten zu je 10,00 Euro verurteilt.
Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
Das - Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende - Rechtsmittel hat mit der in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge (zumindest vorläufigen) Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Aachen. Eines Eingehens auf die Sachrüge bedarf es danach nicht.
Die Revision beanstandet zu Recht, dass dem Angeklagten kein Pflichtverteidiger bestellt worden ist, obwohl der Nebenkläger durch einen Rechtsanwalt vertreten war (Verstoß gegen §§ 140 Abs. 2, 338 Ziff. 5 StPO). Die Mitwirkung eines Verteidigers war nämlich in Anwendung der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO notwendig.
Nach § 140 Abs. 2 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Angeklagten u.a. dann geboten, wenn ersichtlich ist, dass dieser sich nicht selbst verteidigen kann, "namentlich, weil dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist". Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass im Strafverfahren kein Ungleichgewicht zwischen Beschuldigtem und Verletztem entstehen soll, wenn ein Opferanwalt auftritt (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum OpferschutzG, BT-Dr 10/6124, S. 12; SenE v. 20.10.1987 - Ss 495/87 - = StV 1988, 100 und SenE v. 25.08.1989 - Ss 379/89 - = NStZ 1989, 542 = StV 1989, 469 = MDR 1989, 1122). Eine ausdrückliche Regelung enthält das Gesetz demnach nur für den Fall, dass dem Verletzten durch das Gericht tatsächlich ein Anwalt beigeordnet worden ist. Ein Ungleichgewicht kann aber im Einzelfall auch durch einen auf eigene Kosten des Verletzten tätig werdenden Anwalt drohen. Kann hierdurch die Verteidigung beeinträchtigt werden, so ist nach dem Grundgedanken der Bestimmung auf Seiten des Angeklagten ebenfalls die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich (Senat a.a.O.; OLG Stuttgart NStZ-RR 2008, 312 = StV 2009, 12; OLG München NJW 2006, 789; OLG Saarbrücken NStZ 2006, 718; OLG Zweibrücken StraFo 2005, 28 = StV 2005, 491; OLG Hamm VRS 106, 453 = StraFo 2004, 242; OLG Koblenz B. v. 17.12.2003 - 2 Ws 910/03 = BeckRS 2003 30336020; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2002, 112 = StV 2002, 237; OLG Hamm StV 1991, 11; s. noch OLG Frankfurt B. v. 11.05.2007 - 3 Ws 470/07 -, zitiert nach [...]; Meyer-Goßner, StPO, 53. Auflage 2010, § 140 Rz. 31; Lüderssen/Jahn in: Löwe-Rosenberg" StPO, 26. Auflage 2007, § 140 Rz. 101; Wohlers in SK-StPO, § 140 Rz. 52).
Ein solcher Fall liegt hier vor.
Dabei kommt allerdings der ansonsten in der Rechtsprechung häufig herangezogene Gesichtspunkt, dass der Angeklagte zur Vorbereitung der Hauptverhandlung auf Akteneinsicht angewiesen ist, die ihm nur durch einen Rechtsanwalt vermittelt werden kann (s. OLG München NJW 2006, 789; OLG Koblenz B. v. 12.07.2003 - 2 Ws 910/03 = BeckRS 2003 30336020; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2002, 112 = StV 2002, 237; SenE v. 25.08.1989 - Ss 379/89 = NStZ 1989, 542= StV 1989, 469 = MDR 1989, 1122) im vorliegenden Fall nicht zum Tragen (zur Pflichtverteidigerbestellung gerade mit dieser Begründung s. aber OLG Saarbrücken NStZ 2006, 718). Denn im Ermittlungsverfahren waren weder der Geschädigte noch die weiteren Tatzeugen vernommen worden.
Über den Umstand hinaus, dass der Nebenkläger anwaltlich beraten war, fällt hier aber ins Gewicht, dass der nicht rechtskundige, bis dahin nicht bestrafte und somit auch nicht gerichtserfahrene Angeklagte sich dem Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung und damit der Androhung der erheblichen Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsentzug - für den Regelfall - ausgesetzt sah. Hinzu kommt, dass das Gesetz die Möglichkeit einer davon abweichenden Strafrahmenverschiebung für minder schwere Fälle vorsieht. Damit...