Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen einer umfassenden Sorgerechtsentziehung
Leitsatz (amtlich)
1. Die konkrete Familiensituation und die besondere Persönlichkeitsstruktur der Kinder kann die umfassende Sorgerechtsentziehung zwingend erforderlich machen.
2. Der Entzug des gesamten Sorgerechts kommt allerdings nur in Betracht, wenn mildere Mittel nicht ausreichen. Die strikte Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Trennung des Kindes von der Familie ist somit oberstes Verfassungsgebot, nach dem sich die FamG bei der Auswahl der zu treffenden sorgerechtlichen Entscheidung zu richten haben (vgl. zu Vorstehendem: BVerfG NJW 1982, 1379, 1380). Dabei gehört es nicht zum staatlichen Wächteramt, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Vielmehr gehören die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes. Daher reicht es jedenfalls für eine Trennung des Kindes von seinen Eltern allein nicht ausreicht, wenn das Kind woanders nur besser erzogen oder gefördert würde (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 66. Aufl. 2007, § 1666 Rz. 15 m.w. Rechtsprechungsnachweisen). Hinzu kommen muss eine drohende Kindeswohlgefährdung.
3. Um zu einer differenzierten Beurteilung des Gefährdungspotentials der betroffenen Kinder zu kommen, müssen die besondere Situation in der Familie und deren Auswirkung auf die betroffenen Kinder unter Berücksichtigung ihrer individuellen Persönlichkeitsstrukturen beurteilt werden.
4. Ergibt die besondere Situation des Aufwachsens in einer "Großfamilie" und hier insbesondere die Tatsache, dass nunmehr zwei besonders junge Kinder von knapp zwei Jahren und nicht ganz einem Jahr zur Familie gehören, die der besonderen Betreuung der Kindeseltern bedürfen, dass notgedrungen für die übrigen zahlreichen Kinder weniger Zeit bleibt und daher vor Allem die Versorgung der Kinder, die aufgrund ihrer seelisch-geistigen Entwicklung besonderer Betreuung bedürfen, in der Großfamilie nicht gewährleistet ist, so rechtfertigt dies die umfassende Sorgerechtsentziehung, wenn den Kindern beim Belassen in der Familie und Unterbleiben von kontinuierlichen sozialpädagogischen Betreuungsmaßnahmen, die nur bei einer Fremdunterbringung gewährleistet erscheinen, die fortschreitende seelisch-geistige Verwahrlosung droht.
Normenkette
BGB §§ 1666, 1666a
Verfahrensgang
AG Bonn (Beschluss vom 22.05.2007; Aktenzeichen 46 F 84/07) |
Tenor
1. Die bei Gericht am 8.6.2007 eingegangene Beschwerde der Antragsgegner vom 4.6.2007 gegen den ihnen am 29.5.2007 zugestellten Sorgerechtsbeschluss des AG - FamG - Bonn vom 22.5.2007 - 46 F 84/07 - wird zurückgewiesen.
2. Die bei Gericht am 11.6.2007 eingegangene sofortige Beschwerde der Antragsgegner vom 6.6.2007, mit welcher sie den Nichterlass der von ihnen beantragten einstweiligen Anordnung auf Kindesherausgabe angreifen, wird als unzulässig verworfen.
3. Die Antragsgegner tragen die Kosten der Beschwerdeverfahren.
4. Der Antrag der Antragsgegner, ihnen zur Durchführung der Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird mangels der gem. § 114 ZPO erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussicht der Beschwerden zurückgewiesen.
Gründe
1. Die gem. § 621e ZPO zulässige - insbesondere frist- und formgerecht eingelegte - befristete Beschwerde der Antragsgegner, mit welcher sie sich dagegen wehren, dass ihnen bezüglich ihrer Kinder L und E das Sorgerecht insgesamt entzogen und dem Antragsteller als Amtsvormund übertragen worden ist, ist unbegründet.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung und ohne erneute Anhörung der Beteiligten und der betroffenen Kinder im schriftlichen Verfahren entscheiden, nachdem der Sachverhalt in erster Instanz umfänglich aufgeklärt worden ist, dem Senat dieser darüber hinaus aufgrund des Vorverfahrens 4 UF 129/05 umfänglich bekannt ist und zudem dem Senat die häusliche familiäre Situation der Antragsgegner aufgrund zweier Fernsehberichte des WDR, welche die Senatsmitglieder gesehen haben, vor Augen steht. Das Verfahren in Familiensachen, u.a. nach § 621 Abs. 1 Nr. 1 ZPO - Regelung der elterlichen Sorge bzw. eines Teilbereichs der elterlichen Sorge für ein Kind -, bestimmt sich gem. § 621a Abs. 1 ZPO grundsätzlich, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, nach den Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG). Danach ist eine mündliche Verhandlung in Sorgerechtsverfahren nicht unbedingt erforderlich. Dies ergibt sich u.a. auch aus den Vorschriften der § 53a und 53b FGG. Dort ist die mündliche Verhandlung für das Zugewinnausgleichs- und das Versorgungsausgleichsverfahren geregelt. Dagegen bestimmt § 50a FGG lediglich, dass in Verfahren über die Personen- und Vermögenssorge für ein Kind die Eltern anzuhören sind. Die Anhörung dient vor allem der Sachaufklärung, aber auch der Sicherstellung des rechtlichen Gehörs. Dabei hat die grundsätzlich freigestellte mündliche Verhandlung der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht die Funktion und B...