Leitsatz (amtlich)
Ein rechtliches Interesse an der Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens gem. § 485 Abs. 2 ZPO zur Aufklärung der Verletzungen nach einem Verkehrsunfall kann nicht schon deswegen verneint werden, weil das Unfallereignis bereits 4 1/2 Jahre zurückliegt. Vielmehr ist seine Zulässigkeit zu bejahen, wenn die im Beweisverfahren getroffenen Feststellungen der Vermeidung eines Rechtsstreites dienen können. Das rechtliche Interesse wird auch nicht dadurch berührt, dass der Antragsgegner erklärt, zu weiteren Leistungen nicht bereit zu sein, da sich die Auffassung nach Niederlegung des Gutachtens noch ändern kann.
Verfahrensgang
LG Bonn (Beschluss vom 07.06.2021; Aktenzeichen 4 OH 2/21) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des 4. Zivilkammer des Landgerichts Bonn vom 07.06.2021 - 4 OH 2/21 - aufgehoben.
Das Landgericht wird angewiesen, den Antrag nicht wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 485 ZPO zurückzuweisen.
Die Abfassung des Beweisbeschlusses wird dem Landgericht übertragen.
Gründe
Da die angefochtene Entscheidung durch den Einzelrichter erlassen wurde, ist für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde der Einzelrichter zuständig, § 568 ZPO.
Die nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Das Landgericht hat zutreffend die Voraussetzungen des § 485 Abs. 1 ZPO verneint. Weder hat die Antragsgegnerin der Begutachtung zugestimmt, noch ist ersichtlich, dass die Feststellungen nicht noch in einem eventuellen Hauptverfahren erfolgen können. Ein Beweismittelverlust droht aus den vom Landgericht genannten Gründen nicht.
Der Antrag auf Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens ist aber nach § 485 Abs. 2 ZPO zulässig. Nach dieser Vorschrift kann, wenn ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist, die schriftliche Begutachtung des Zustands einer Person beantragt werden, wenn sie ein rechtliches Interesse an der Begutachtung hat. Ein rechtliches Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Hierzu ist die Feststellung der Unfallfolgen im selbständige Beweisverfahren grundsätzlich geeignet. Da über den Haftungsgrund kein Streit besteht, ist zu erwarten, dass auf Grundlage eines gerichtlichen medizinischen Sachverständigengutachtens eine gütliche Einigung auch ohne Hauptsacheverfahren möglich ist. Wie die Antragserwiderung zeigt, streiten die Parteien nicht nur über die angemessene Höhe des Schmerzensgeldes aufgrund unstreitiger Unfallfolgen, sondern gerade auch darüber, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Antragstellerin vorliegen und inwieweit diese auf den Unfall zurückzuführen sind. Zur Klärung dieser Fragen ist die beantragte Begutachtung grundsätzlich geeignet.
Bei dieser Sachlage ist das rechtliche Interesse nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich die Antragstellerin als klagebereit zeigt und die Antragsgegnerin derzeit zu weiteren Leistungen nicht bereit ist. Beide Einschätzungen können sich nach Vorlage gerichtlicher Gutachten ändern (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl., § 485 Rn. 7a).
Fundstellen
Haufe-Index 14984071 |
IBR 2022, 496 |
DAR 2022, 340 |
MDR 2022, 561 |
SVR 2022, 189 |