Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassene Abklärung der Hüfte bei einem Kind
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Röntgenuntersuchung der Hüfte zur wenigstens differenzialdiagnostischen Abklärung einer Epiphysiolysis capitis femoris (ECF = Ablösung des Endstücks am Oberschenkelknochen) bei einem Kind darf - auch wenn es sich um eine relativ seltene Erkrankung handelt - nicht aus Gründen des Strahlenschutzes unterbleiben. Das Unterlassen einer gebotenen Abklärung stellt sich jedenfalls als Befunderhebungsfehler dar.
2. Zweifel, ob eine frühere Reaktion auf den hinreichend wahrscheinlich reaktionspflichtigen Befund einer solchen Abklärung den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst hätte, gehen zu Lasten des Behandlers, es sei denn, jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang wäre äußerst unwahrscheinlich. Dass der Kausalzusammenhang "eher unwahrscheinlich" ist, genügt nicht.
3. Der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Unterlassen der gebotenen Abklärung und den letztlich eingetretenen körperlichen Beeinträchtigungen wird nicht dadurch unterbrochen, dass in der Folgezeit sowohl ein spezialisiertes Krankenhaus die gleiche Befunderhebung unterlässt als auch ein weiteres Krankenhaus eine möglicherweise so nicht indizierte Hüftoperation vornimmt.
Normenkette
BGB §§ 253, 280, 611, 823
Verfahrensgang
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 17.4.2012 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des LG Köln - 3 O 467/09 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Dieser Beschluss und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die 1993 geborene Klägerin begehrt von den Beklagten wegen des Vorwurfs von Behandlungs- und Befunderhebungsfehlern Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Nach einem Sturz beim Schulsport am 14.8.2006, am 29.8.2006 beim Einradfahren, am 10.9.2006 beim Einlauf in ein Fußballstadion und einem weiteren Sturz am 29.9.2006 begab sich die Klägerin in der Zeit von Ende August 2006 bis Anfang November 2006 wegen Beschwerden und Schmerzen im rechten Bein in die Behandlung der Beklagten, ohne dass die Ursachen ihrer Beschwerden sicher geklärt werden konnten. Nachdem sich die Klägerin am 6.11.2006 wiederum in der Notfallambulanz der Beklagten zu 1) vorstellte, wurde sie stationär in die Pädiatrie der Beklagten zu 1) aufgenommen. Bei einer Kernspinuntersuchung der Lendenwirbelsäure am 10.11.2006, bei der auch die Hüfte mit abgebildet wurde, wurde eine Epiphysiolysis capitis femoris (i. F. ECF) rechts festgestellt, d.h. ein ausgeprägtes Abrutschen der rechten Hüftkopfkalotte durch Verschiebung der Epiphysenfuge. Die Klägerin wurde daraufhin noch am selben Tage in das Kinderkrankenhaus nach B verlegt, wo sie am 14.11.2006 an der rechten Hüfte und prophylaktisch auch an der linken Hüfte operativ versorgt wurde. Die Klägerin befand sich seitdem durchgehend in ambulanter und mehrfach in stationärer Behandlung, u.a. wegen einer Beinlängenverkürzung rechts von bis zu knapp 4 cm, wegen der am 22.1.2010 eine linksseitige Verkürzungsosteotomie durchgeführt wurde. Ferner waren erhebliche Nekrotisierungen des Hüftkopfes eingetreten.
Gestützt auf von ihr vorprozessual eingeholte Sachverständigengutachten von Prof. Dr. S und Dr. J hat die Klägerin den Beklagten jeweils grobe Befunderhebungsfehler und darauf basierend unzureichende und fehlerhafte Behandlung vorgeworfen. Sie hat behauptet, durch eine frühzeitigere Diagnose und Behandlung ihrer bereits seit Beginn der Konsultationen vorgelegenen Erkrankung wären die von ihr im Einzelnen dargelegten schweren Folgen, die aufgrund der verzögerten Behandlung eingetreten und für die Zukunft zu befürchten seien, zu vermeiden gewesen. Sie ist der Ansicht gewesen, dass dies ein Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 55.000 EUR nebst Zinsen rechtfertige sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für sämtliche materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden. Zudem hat sie Kosten geltend gemacht für vorgerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten i.H.v. 1.085 EUR, 200 EUR und 1.532 EUR, jeweils nebst Zinsen.
Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt und sind dem Vorbringen der Klägerin im Einzelnen entgegengetreten. Sie haben im Wesentlichen behauptet, in Anbetracht der Anamnese und Klinik habe zu einer weiter gehenden Diagnostik hinsichtlich des Hüftgelenks keine Veranlassung bestanden. Auch bei früherer Diagnose und Therapie der ECF hätte sich am späteren Verlauf der Erkrankung der Klägerin nichts geändert, insbesondere hätten dadurch die eingetretenen Folgen nicht sicher verhindert werden können.
Wegen der Einzelheiten des streitigen Vorbringens der Parteien, der erstinstanzlich gestellten Anträge und der tatsächlichen Feststellungen des LG wird...