Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zwingend anordnet, dass nicht erstmals zum Anwaltsnotar bestellt werden kann, wer bei Ablauf der Bewerbungsfrist für die Notarstelle das 60. Lebensjahr vollendet hat, selbst wenn mehrere Stellen unbesetzt bleiben müssen, weil in dem Amtsgerichtsbezirk, in dem das Bewerbungsverfahren stattgefunden hat, keine geeigneten jüngeren Bewerber vorhanden sind und sich Bewerber aus anderen Amtsgerichtsbezirken nicht bewerben dürfen?
2. Ist die Frage nach Ziffer 1 dann zu bejahen, wenn zu erwarten ist, dass im folgenden Jahr erneut im selben Amtsgerichtsbezirk mehrere ausgeschriebene Stellen als Anwaltsnotar nicht mit geeigneten Bewerbern unter 60 Jahren besetzt werden können?
3. Ist die Frage nach Ziffer 1 jedenfalls deshalb zu bejahen, weil außerdem zu erwarten ist, dass auch in anderen Amtsgerichtsbezirken außerhalb von Ballungszentren wiederholt nicht alle ausgeschriebenen Stellen als Anwaltsnotar mit geeigneten Bewerbern unter 60 Jahren besetzt werden können?
4. Liegt kein Verstoß gegen Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 vor, wenn in einem Amtsgerichtsbezirk die Versorgung mit notariellen Leistungen sichergestellt ist, obwohl ein über 60 Jahre alter Bewerber allein wegen seines Alters nicht zum Anwaltsnotar bestellt worden ist und mehrere Stellen unbesetzt geblieben sind?
II. Das Verfahren wird ausgesetzt.
Gründe
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
Die Klägerin bewirbt sich auf eine Stelle als Anwaltsnotarin in dem Amtsgerichtsbezirk, in dem sie seit mehr als 3 Jahren als Rechtsanwältin tätig ist. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt, weil sie bei Ablauf der Bewerbungsfrist älter als 60 Jahre war. Alle übrigen Voraussetzungen für die Zulassung als Anwaltsnotarin in dem Amtsgerichtsbezirk werden von ihr erfüllt. Insbesondere hat sie die erforderliche anwaltliche Fachprüfung für das Amt als Notarin bestanden. Sie hatte sich bereits im Jahr 2017 auf eine ausgeschriebene Notarstelle im selben Bezirk beworben. Die Bewerbung war auch damals abgelehnt worden, weil die Klägerin bereits das 60. Lebensjahr vollendet hatte. Die hiergegen gerichtete Klage blieb sowohl vor dem Senat (2 VA (Not) 8/17) als auch vor dem Bundesgerichtshof (NotZ (Brfg) 7/18) ohne Erfolg.
Die Zahl der Notarstellen in einem bestimmten Amtsgerichtsbezirk richtet sich nach dem Bedarf an notariellen Dienstleistungen unter Wahrung einer geordneten Altersstruktur (§ 4 BNotO). Insgesamt wurden 2022 vier Stellen in diesem Amtsgerichtsbezirk ausgeschrieben. Nur eine Stelle wurde besetzt. Die übrigen Stellen blieben mangels Bewerbern unbesetzt.
Es wird erwartet, dass auch künftig in diesem Amtsgerichtsbezirk mangels ausreichender Anzahl von Bewerbern, die die Voraussetzungen zur Bestellung als Anwaltsnotar erfüllen, nicht alle Stellen besetzt werden können. Im Jahr 2023 ist die Ausschreibung von 5 Notarstellen für diesen Amtsgerichtsbezirk erfolgt. Aufgrund der Informationen über bestandene anwaltliche Fachprüfungen, die Voraussetzung für die Bestellung zum Anwaltsnotar ist (§ 5b Abs. 1 Nr. 3 BNotO), können wahrscheinlich davon 3 Stellen mangels Bewerbern nicht besetzt werden. Bezogen auf alle Amtsgerichtsbezirke im Zuständigkeitsbereich der Beklagten, für die Anwaltsnotare zu bestellen sind, stehen den im Jahr 2023 ausgeschriebenen 69 Stellen voraussichtlich nur 39 Bewerber gegenüber. Bezogen auf das gesamte Bundesgebiet ist ebenfalls davon auszugehen, dass außerhalb von Ballungszentren in vergleichbaren Ausmaß Notarstellen nicht besetzt werden können. Die Nichtbesetzung ausgeschriebener Notarstellen hat jedenfalls bislang noch nicht dazu geführt, dass Beurkundungen nicht oder nur mit deutlicher Verzögerung erfolgen konnten.
Das Amt des Anwaltsnotars wird von Rechtsanwälten neben ihrer anwaltlichen Tätigkeit ausgeübt (§ 3 Abs. 2 BNotO). Sie können sich grundsätzlich nur in dem Amtsgerichtsbezirk um eine Stelle als Anwaltsnotar bewerben, in dem sie seit mehr als 3 Jahren als Rechtsanwalt tätig sind (§ 5b Abs. 1 Nr. 2 BNotO). Für ihre notarielle Tätigkeit erheben Notare von ihren Klienten Gebühren. Eine Alimentation durch den Staat findet nicht statt. Das Amt eines bestellten Anwaltsnotars endet mit Vollendung des 70. Lebensjahres (§ 48a BNotO); die Wirksamkeit dieser Bestimmung ist derzeit Gegenstand eines beim Bundesgerichtshof anhängigen Berufungsverfahrens (NotZ (Brfg) 4/22).
Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihrer Bestellung zur Anwaltsnotarin durch die Beklagte vor dem Oberlandesgericht Köln Klage erhoben und be...