Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Verbot von Diskriminierungen wegen des Alters. Höchstaltersgrenze von 60 Jahren für die erstmalige Bestellung zum Anwaltsnotar. Unbesetzte Stellen aufgrund des Fehlens jüngerer Bewerber. Rechtfertigungsgründe. Angemessenheit und Erforderlichkeit
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 21; Richtlinie 2000/78/EG Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, Art. 6 Abs. 1
Beteiligte
Rechtsanwältin und Notarin |
Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm |
Tenor
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist im Licht von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung, die für die erstmalige Bestellung zum Anwaltsnotar eine Höchstaltersgrenze von 60 Jahren vorsieht, nicht entgegensteht, sofern mit dieser Regelung ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik verfolgt wird und die Regelung in dem legislativen Kontext, in den sie sich einfügt, und in Anbetracht aller Sachverhalte, auf die sie anwendbar ist, zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-408/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 2023, in dem Verfahren
Rechtsanwältin und Notarin
gegen
Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer F. Biltgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer, der Präsidentin der Fünften Kammer M. L. Arastey Sahún und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Rechtsanwältin und Notarin, vertreten durch Rechtsanwalt J.-J. Menge,
- – der Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm, vertreten durch Rechtsanwalt U. Karpenstein und Rechtsanwältin R. Sangi,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und J. Simon als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und E. Schmidt als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) und von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einer Rechtsanwältin und Notarin und der Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm (Deutschland) wegen deren Ablehnung der Bewerbung der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf eine Stelle als Anwaltsnotarin.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2000/78
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 2000/78 lautet:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
Rz. 4
Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
…“
Rz. 5
Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf
a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs;
…“
Rz. 6
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, w...