Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der gemeinsamen Sorge bei Zerstrittenheit der Eltern bzw. Desinteresse eines Elternteils
Leitsatz (amtlich)
1. Für eine gesunde gedeihliche Entwicklung des Kindes erscheint eine enge vertrauensvolle Beziehung zu beiden Elternteilen wichtig. Wünschenswert ist es daher, dass sich bei dem betroffenen Kind das Bewusstsein entwickeln kann, beide Elternteile seien über die Trennung hinaus an seiner geistig-seelischen Entwicklung gleichermaßen interessiert, würden Verständnis für seine Bedürfnisse zeigen und seien gewillt, Verantwortung für eine Kind gerechte Umsetzung seiner Bedürfnisse zu übernehmen. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge im wohl verstandenen Kindeswohlinteresse.
2. Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung, die sich als oberste Richtschnur an dem so verstandenen Kindeswohl auszurichten hat (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), setzt jedoch eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus und erfordert daher ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen (BVerfG FamRZ 2004, 354, 355). Zentrale Bedeutung gewinnen damit - objektive - Kooperationsfähigkeit und - subjektive - Kooperationsbereitschaft der Eltern (OLG Saarbrücken OLGReport Saarbrücken 2004,155; f.; KG FamRZ 2000, 502 f.; Veit in Bamberger/Roth, BGB, 1. Aufl. 2003, § 1671 Rz. 28 m.w.N.).
3. Vermögen die Eltern nach der Trennung eine gemeinsame "Kommunikations- und Problemlösungsebene" nicht aufzubauen und steht dies - prognostisch - auch für die Zukunft nicht zu erwarten, ist die gemeinsame elterliche Sorge aufzulösen und demjenigen Elternteil zuzuweisen, bei dem das Wohl des Kindes am besten gewahrt zu werden verspricht (so OLGReport Koblenz 2005, 834-835; vgl. auch OLG Naumburg FamRZ 2009, 792 ; OLG Saarbrücken, a.a.O.; Veit, a.a.O., Rz. 33: "relativ beste Lösung"). Denn in diesem Fall steht die vom Kind wahrgenommene Zerstrittenheit der Eltern bzw. das erkannte Desinteresse eines Elternteils an seiner Entwicklung dem Kindeswohl entgegen. Vielmehr erscheint die "gemeinsame Sorge" eher das Kindeswohl gefährdend, wenn das Kind immer wieder vergegenwärtigen muss, dass es für die Eltern mit seinen Belangen als "Zankapfel" herhalten muss.
Normenkette
BGB § 1671 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Bonn (Beschluss vom 27.03.2012; Aktenzeichen 403 F 243/11) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Bonn vom 27.3.2012 - 403 F 243/11 - teilweise dahin abgeändert, dass die elterliche Sorge für das Kind I., geboren am 0.00.1999, allein auf die Antragstellerin übertragen wird.
Die Kosten des Sorgerechtsverfahrens beider Instanzen werden gegeneinander aufgehoben.
2. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt N. in T. bewilligt. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im hiesigen Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwalts.
Gründe
1. Die zulässige - insbesondere frist- und formgerecht eingelegte - Beschwerde der Antragstellerin ist auch begründet und führt zur Abänderung der erstinstanzlich getroffenen Entscheidung.
Der Antragstellerin war die alleinige elterliche Sorge gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB insgesamt zu übertragen, da zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl am besten entspricht.
Es besteht kein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der gemeinsamen Sorge in dem Sinne, dass die Alleinsorge eines Elternteils nur ausnahmsweise als "ultima ratio" in Betracht kommen soll (BGH FamRZ 2000, 478; BGH FamRZ 2005, 1167; OLG Dresden juris, Beschl. v. 23.12.2009 - 8 UF 200/09). Nach der Neugestaltung des Rechts der elterlichen Sorge durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz obliegt es in erster Linie der Entscheidung der Eltern, ob sie nach ihrer - dauerhaften - Trennung die gemeinsame elterliche Sorge beibehalten wollen; deren Auflösung in eine - gegebenenfalls auch nur partielle - Alleinsorge erfolgt nur auf Antrag eines Elternteils beim Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen (sog. modifiziertes Antragsverfahren; vgl. BGH NJW 2000, 203,204 = FamRZ 1999, 1646 f.; Veit in Bamberger/Roth, BGB, 1. Aufl. 2003, § 1671 Rz. 2). Ein Vorrang der gemeinsamen vor der Alleinsorge eines Elternteils besteht dabei ebenso wenig wie eine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei (BVerfG FamRZ 2004, 354,355; BGH, a.a.O.; OLG Zweibrücken FamRZ 2001, 182; s. auch Bundestags-Drs. 13/4899, S. 63).
Dabei ist zu beachten, dass für eine gesunde gedeihliche Entwicklung des Kindes eine enge vertrauensvolle Beziehung zu beiden Elternteilen wichtig erscheint. Wünschenswert ist es daher, dass sich beim betroffenen Kind das Bewusstsein entwickeln kann, beide Elternteile seien über die Trennung an seiner geistig-seelischen Entwicklung gleichermaßen interessiert, würden Verständnis für seine Bedürfnisse zeigen und seien gewillt, Verantwortung f...