Entscheidungsstichwort (Thema)

Verhältnismäßigkeit eines umfassenden Sorgerechtsentzuges

 

Leitsatz (amtlich)

Der vollständige Entzug des elterlichen Personensorgerechts ist mit dem in Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG gewährleisteten Elternrecht nur dann vereinbar, wenn ein schwerwiegendes - auch unverschuldetes - Fehlverhalten der Eltern und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vorliegen, denen nicht anders als durch Entzug der elterlichen Sorge zu begegnen ist. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat, diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (BVerfGE 24, 119 [144 f.] = NJW 1968, 2233). Das elterliche Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Der Gesetzgeber ging in Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 GG davon aus, dass der vollständige Entzug der elterlichen Sorge und die damit verbundene (vorliegend jederzeit mögliche) Trennung der Kinder von ihren Eltern den stärksten Eingriff in das Elternrecht darstellt; sie darf danach nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Aus diesem Grund wurde die Vorschrift des § 1666a BGB geschaffen.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht gewahrt, wenn den Eltern das Sorgerecht vollständig wegen erheblicher Gefährdung des Kindeswohls in der Erwartung entzogen wird, aufgrund der nunmehr jederzeit möglichen Herausnahme der Kinder aus dem elterlichen Haushalt seien die Eltern besser in die zweifellos erforderliche Kooperation mit dem Jugendamt (JA) und den übrigen Verantwortlichen der zur Verfügung gestellten "Helfersysteme" einzubeziehen, andererseits aber die Kinder im Haushalt der Eltern belässt. Der damit verfolgte Zweck der Sorgerechtsentziehung, Druck auf die Kindeseltern auszuüben, ist unter der gebotenen verfassungskonformen Auslegung der §§ 1666, 1666a BGB mit dieser Zielrichtung nicht zu vereinbaren und die getroffene Maßnahme unverhältnismäßig. Er kann auch mit weniger einschneidenden Mitteln - nämlich dem teilweisen Entzug der Personensorge bestimmter Bereiche - erreicht werden.

Erst wenn sich definitiv herausstellt, dass der teilweise Entzug der Personensorge nicht ausreicht, um eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden - etwa weil die Eltern durch mangelhafte Kooperationsbereitschaft mit dem JA ihre vollständige Erziehungsunfähigkeit und Lernbereitschaft dokumentieren -, kommt der vollständige Entzug der elterlichen Personensorge in Betracht.

 

Normenkette

GG Art. 6; BGB §§ 1666, 1666a

 

Verfahrensgang

AG Bonn (Beschluss vom 15.06.2005; Aktenzeichen 46 F 236/01)

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragsgegner wird der Beschluss des AG - FamG - Bonn vom 15.6.2005 unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Hinsichtlich der Kinder N., T., O., D., M., L., E. und K. wird den Kindeseltern das elterliche Personensorgerecht zwecks Durchführung sozialpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) und der Gesundheitsfürsorge entzogen. Insoweit wird die elterliche Personensorge dem Jugendamt der Bundesstadt C. (JA C.) als Ergänzungspfleger übertragen.

Bezüglich der Kinder W., F. und J. wird den Kindeseltern das elterliche Personensorgerecht insgesamt entzogen. Die elterliche Personensorge wird dem Sozialdienst Katholischer Frauen C. e.V. (SKF C.) als Ergänzungspfleger übertragen.

Die weiter gehenden Anträge des JA C. werden zurückgewiesen.

Eine Kostenerstattung findet in erster und zweiter Instanz nicht statt.

II. Den Antragsgegnern wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G. in B. bewilligt.

 

Gründe

I. Die gem. § 621e ZPO zulässige - insb. frist- und formgerecht eingelegte - befristete Beschwerde der Antragsgegner hat in der Sache teilweise Erfolg, nämlich soweit das FamG den Antragsgegnern das elterliche Sorgerecht bezüglich der Kinder N., T., O., D., M., L., E. und K. insgesamt entzogen hat und den Entzug nicht lediglich auf die im Beschlusstenor genannten Teilbereiche der elterlichen Personensorge beschränkt hat. Im Übrigen ist die befristete Beschwerde mit der Maßgabe unbegründet, dass bezüglich der Kinder W., F. und J. nur die elterliche Personensorge und nicht das gesamte elterliche Sorgerecht einschließlich der Vermögenssorge zu entziehen ist und dass daher für alle Kinder keine Vormundschaft, sondern lediglich eine Ergänzungspflegschaft des JA C. bezüglich der Kinder N., T., O., D., M., L., E. und K. sowie des SKF C. bezüglich der Kinder W., F. und J. anzuordnen ist.

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung und ohne erneute Anhörung der Beteiligten und der betroffenen Kinder im schriftlichen Verfahren entscheiden, nachdem der Sachverhalt in erster Instanz umfänglich aufgeklärt worden ist. Das Verfahren in Familiensachen u.a. nach § 621 ...

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