Entscheidungsstichwort (Thema)
"Darmreinigung vor Koloskopie": Abgrenzung Arzneimittel von Medizinprodukt
Leitsatz (amtlich)
1. Der in Art. 1 Nr. 1b der EG-Richtlinie 2004/27 enthaltene Terminus "pharmakologische Wirkung" hat keine andere Bedeutung als der zuvor im Rahmen der Einordnung eines Mittels als Arzneimittel maßgebliche Begriff "pharmakologische Eigenschaft".
2. Das für die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Nahrungsergänzungsmitteln geltende Erfordernis einer "nennenswerten" Auswirkung auf den Stoffwechsel ist auch bei der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten zu beachten.
3. Ein Mittel, das von seinen Wirkungen her in den Regelungsbereich des AMG wie des MPG fällt, ist nicht dem MPG (als speziellerem Gesetz) zuzuordnen, sondern bei verbleibenden Zweifeln dem AMG.
4. Ein Darmreinigungspräparat, das zu physiologischen Vorgängen im Darm führt, wie sie durch bloße Nahrungsaufnahme nicht erzielt werden und die gesundheitsgefährdende Nebenwirkungen haben können, ist als Arzneimittel einzustufen.
Normenkette
AMG § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Nr. 2, § 21 Abs. 1; HWG § 3a; MPG § 3 Nr. 1a; UWG § 4 Nr. 1, § 9; EG Richtlinie 2001/83 Art. 1 Nr. 2; EG-Richtlinie 2004/27 Art. 1 Nr. 1b; EG-Richtlinie 2004/27 Erwägungsgrund 7
Verfahrensgang
LG Köln (Urteil vom 14.05.2009; Aktenzeichen 31 O 374/06) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 31. Zivilkammer des LG Köln vom 14.5.2009 wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann jedoch die Vollstreckung des Unterlassungs- und des Auskunftsanspruches durch Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Sicherheitsleistung beträgt hinsichtlich der Unterlassungsverpflichtung 500.000 EUR und hinsichtlich der Auskunftsverpflichtung 20.000 EUR.
Die Vollstreckung des Kostenerstattungsanspruches kann die Beklagte durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien sind pharmazeutische Unternehmen. Sie vertreiben jeweils chemisch weitgehend identisch zusammengesetzte Darmreinigungspräparate zur Vorbereitung einer Koloskopie (Darmspiegelung). Das von der Beklagten seit Mitte März 2006 angebotene Mittel "..." enthält als wirksame Bestandteile 52,5g Macrogol 3350, 1,402g Natriumchlorid, 0,714g Natriumhydrogencarbonat und 0,186g Kaliumchlorid. Das Mittel wird zur Anwendung in 3-4 Liter Wasser aufgelöst getrunken. Der Wirkstoff Macrogol bewirkt eine Vermehrung des Wasservolumens im Darmtrakt. Dadurch wird der vorhandene Stuhl hydratisiert und nimmt ebenfalls an Volumen zu; die Darmwand wird gedehnt und ein Defäkationsreflex ausgelöst, so dass der Darm erheblich beschleunigt entleert wird. Die in dem Mittel enthaltenen Elektrolyte dienen dazu, einen eventuellen Elektrolytverlust auszugleichen.
Die Klägerin vertreibt ihr Mittel als Arzneimittel, die Beklagte die "..." als Medizinprodukt. Die Klägerin hält dies für unzulässig, da das Mittel ein in-vivo-diagnostisches Arzneimittel i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG oder ein Funktionsarzneimittel gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG sei. Die Klägerin verlangt von der Beklagten, es zu unterlassen, das streitgegenständliche Mittel in den Verkehr zu bringen und/oder zu bewerben, solange es nicht als Arzneimittel zugelassen ist, und die Auskunft, in welchem Umfang dies bisher geschehen ist; außerdem begehrt sie die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten.
Das LG hat - sachverständig beraten - festgestellt, dass das Mittel zunächst einen physikalischen Reiz dadurch auslöst, dass aufgrund der Erweichung des Stuhls und der Vergrößerung seines Volumens Druck auf die Darmwand ausgeübt werde. Dadurch werde die Darmmuskulatur zu einer verstärkten Aktivität angeregt. Diese Reaktion entspreche nicht mehr den natürlichen Körperfunktionen und Körperabläufen und sei daher kein normaler physiologischer Vorgang mehr, sondern stelle einen vorübergehenden pathologischen Zustand dar. Durch eine normale Ernährung könne eine derartige Dehnung der Darmwand und die dadurch ausgelöste Reaktion des Darms nicht erreicht werden, weil bei einer Aufnahme normaler Nahrung eine Flüssigkeitsresorption und daher Stuhleindickung stattfinde. Die Einnahme eines derart zusammengesetzten Mittels sei mit dem Risiko erheblicher unerwünschter Körperreaktionen verbunden.
Das LG hat auf dieser Grundlage angenommen, das streitgegenständliche Mittel sei ein Arzneimittel i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, und die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Die Beklagte, die mit der Berufung ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, vertieft und ergänzt ihren erstinstanzlichen Vortrag. Sie meint insbesondere, eine pharmakologische Wirkung, aus der hier allein...