Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufklärung über Risiken bei CT-gesteuerter periradikulärer Lumbalinfiltration

 

Leitsatz (amtlich)

1. Über das Risiko einer Querschnittslähmung durch eine CT-gesteuerte periradikuläre Lumbalinfiltration ist schon im Rahmen der sog. Grundaufklärung aufzuklären. Es ist nicht entscheidend, ob zum Zeitpunkt der Behandlung diese Gefahr als spezifisches Risiko anzusehen war, oder sich in einer Form verwirklichte, mit der nicht zu rechnen war.

2. Führt eine periradikuläre Lumbalinfiltration zu einem inkompletten Querschnittssyndrom (hier bei einem etwa 50-jährigen Mann in beruflich leitender Position) mit hochgradiger Caudalähmung, Paraplegie der Beine und Verlust der Blasen- und Mastdarmfunktion, ist ein Schmerzensgeld von 200.000 EUR gerechtfertigt.

 

Normenkette

BGB §§ 253, 278, 280, 611, 823

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Urteil vom 10.03.2010; Aktenzeichen 9 O 250/08)

BGH (Aktenzeichen VI ZR 22/11)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 10.3.2010 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 250/08 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 EUR zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, welche aus der fehlerhaften Behandlung im Februar 2004 resultieren und soweit der Kläger sie nicht mit den Anträgen zu 1) a) und b) gesondert geltend macht, zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird gestattet, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der 1954 geborene Kläger nimmt die Beklagte, die als Fachärztin für Orthopädie niedergelassen ist, auf Schmerzensgeld und Schadensersatz in Anspruch wegen angeblich fehlerhafter und mangels ausreichender Aufklärung rechtswidriger ärztlicher Behandlung im Februar 2004.

Der Kläger litt seit Jahren an degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit tiefen Rückenschmerzen, die von der Beklagten konservativ behandelt wurden. Ende 2003 hatte der Kläger ein akutes Ereignis, nach dem er erstmalig neben Rückenschmerzen auch Schmerzen im linken Bein hatte. Die radiologische Diagnostik zeigt Protusionen der Bandscheiben L3/4 sowie L5/S1 und einen Bandscheibenvorfall L4/5. Nachdem eine konservative Akuttherapie durch die Beklagte ohne durchgreifenden Erfolg blieb, führte die Beklagte beim Kläger am 17.2.2004 in der radiologischen Praxis des Streithelfers mit dessen Beistand eine CT-gesteuerte periradikuläre Lumbalinfiltration im Segment S1 durch. In der Praxis des Streithelfers erhielt der Kläger vor der Behandlung einen von dem Streithelfer entwickelten und von ihm unterschriebenen Aufklärungsbogen, mit dem der Kläger über den Eingriff und dessen Risiken aufgeklärt wurde. Wegen der darin enthaltenen Angaben im Einzelnen wird auf die zur Akte gereichte Kopie (Bl. 27 GA) Bezug genommen. Unmittelbar nach der Injektion trat ein inkomplettes Querschnittssyndrom mit hochgradiger Caudalähmung, Paraplegie der Beine und Verlust der Blasen- und Mastdarmfunktion ein. Nach Erstversorgung im Malteser-Krankenhaus in C. wurde der Kläger noch am 17.2.2004 in die Neurochirurgie der Universitätsklinik C. verlegt. Bei Aufnahme fand sich eine schlaffe Parese beider Beine mit schwachen Hüftbeugern und Kniestreckern. Für Fußheber bzw. -senker fand sich ein vollständiger Kraftverlust. Unterhalb von L3 bestand eine ausgeprägte Hypästhesie, die ab S1 in einen vollständigen Sensibilitätsverlust überging. Der Analsphinkter-Tonus war schwach, die Blasenkontrolle vollständig aufgehoben. Die zunächst bestehende Harninkontinenz änderte sich im Verlauf zu einem Harnverhalt, weshalb der Kläger sich nun in intermittierenden Abständen einmalkatheterisieren muss. Eine Stuhlinkontinenz wurde im November 2007 durch einen doppelläufigen Anus praeter sigmoidalis behandelt. Die Ursache für die Lähmung ist ungeklärt. Nach mehreren stationären Rehabilitationsaufenthalten und ambulanter Krankengymnastik verbesserte sich der Zustand des Klägers, so dass er ab April 2006 wieder in seinen zuvor ausgeübten Beruf als Bankkaufmann und Filialleiter zurückkehren konnte. Der Kläger ist nur für wenige Schritte am Rollator gehfähig und ansonsten auf einen Rollstuhl angewiesen. Aufgrund seines ganztätigen Sitzens im Rollstuhl leidet der Kläger an Schmerzen im lumbosakralen Übergang. Der Kläger ist mit den Merkzeichen G, aG und B zu 100 % schwerbehindert. Die Voraussetzungen für den Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente liegen vor. Sie wird vom Kläger jedoch nicht beansprucht.

Der Kläger hat der Beklagten Behandlungsfehler und -...

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