Leitsatz (amtlich)
›1. Die Wartepflicht gem. § 8 StVO gilt nicht nur für die Kreuzungsfläche, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der Vorfahrtsstraße. Erst mit richtiger Eingliederung in den Querverkehr ist die Wartepflicht erfüllt.
[Haftungsverteilung 1/4 zu 3/4 zu Lasten des wartepflichtigen Fahrzeugs, wenn dieses nach dem Einbiegen in die Vorfahrtstraße an einer Engstelle mit einem entgegenkommenden, die Gegenfahrbahn mit einer Breite von etwa 30 cm in Anspruch nehmenden Leichtkraftrad kommt]
2. Bei Verlust einer Niere eines 18-jährigen jungen Mannes und einem Mitverursachungsbeitrag von 25% ist ein Schmerzensgeld von 26.000,00 DM [13.000 EUR] angemessen.‹
Gründe
Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet.
Der Beklagte zu 1) haftet aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 8 StVO, § 847 BGB, die Beklagte zu 2) aus diesen Vorschriften in Verbindung mit § 3 Nr. 1 Pflichtversicherungsgesetz dem Kläger dem Grunde nach auf Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens zu 3/4.
Der Beklagte zu 1) hat die Vorfahrt des Klägers schuldhaft nicht beachtet. Da der Kläger von rechts kam und die Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist, hatte der für den Beklagten zu 1) von rechts kommende Verkehr die Vorfahrt, § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO. Diese Vorfahrtsberechtigung gilt bei gefährdender oder behindernder Annäherung der Fahrlinie der Fahrzeuge außerhalb des Kreuzungsbereichs, solange das Verhalten des Wartepflichtigen noch unmittelbar einwirkt (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 34. Auflage, § 8 Rn. 28 am Ende). Die Wartepflicht gilt nicht nur für die Kreuzungsfläche, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der Vorfahrtstraße. Erst mit richtiger Eingliederung in den Querverkehr ist die Wartepflicht erfüllt (Hentschel, aaO. Rn. 55 mit weiteren Hinweisen). Diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Nach der Verkehrsunfallanzeige kam es unmittelbar am Ende des Einmündungsbereichs auf dem Erlenring zum Zusammenstoß (Blatt 1 Strafakten). Das ergibt sich auch in etwa aus der Unfallskizze (Blatt 6 Strafakten). Danach befindet sich das Heck des PKW des Beklagten knapp hinter dem Ende des Einmündungsbereichs. Deutlicher ist dies aus den Fotos Blatt 56, 59 Strafakten und Blatt 99 Gerichtsakten zu ersehen, selbst wenn man berücksichtigt, daß nicht sicher ist, daß die Stellung der dort geparkten Fahrzeuge der zur Unfallzeit entspricht. Nach der Verkehrsunfallanzeige ist aber davon auszugehen, daß die Fotos die Stellung der geparkten Fahrzeuge in etwa richtig wiedergeben, da nach der Anzeige am Ende des Einmündungsbereichs ein PKW am Fahrbahnrand halb auf dem Gehweg parkte.
Auch die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten haben in dem Verhalten des Beklagten zu 1) eine Vorfahrtsverletzung gesehen und nicht etwa ein Verstoß gegen § 6 StVO. Dem entsprechend ist in der Anklageschrift vom 18.03.1993 von der Nichtbeachtung der Vorfahrt des Klägers ausgegangen worden.
Die Wartepflicht besteht indessen nur gegenüber sichtbaren Berechtigten, also nicht gegenüber solchen, die aufgrund des Straßenverlaufs noch nicht erkennbar sind. Aus den Lichtbildern, insbesondere auf Blatt 99 Gerichtsakten und 57 Strafakten, ergibt sich, daß der Beklagte zu 1) den Kläger rechtzeitig hätte sehen können, wenn dieser - wie jetzt nicht mehr im Streit ist - den E.weg befahren hat. Insoweit streitet zugunsten des Klägers der Beweis des ersten Anscheins schuldhafter Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1), der nur durch bewiesene Tatsachen ausgeräumt werden kann, z. B. solchen, aus denen folgt, daß der Berechtigte auch bei größerer Sorgfalt nicht gesehen werden konnte (Hentschel, aaO., Rn. 69 mit weiteren Nachweisen). Solche Tatsachen hat der Beklagte zu 1), dessen Vortrag zudem widersprüchlich ist, nicht bewiesen.
Der Annahme des Anscheinsbeweises für eine schuldhafte Vorfahrtsverletzung auch bei einem nach rechts einbiegenden Wartepflichtigen steht nicht die in NJW 1982, Seite 2668 veröffentlichte Entscheidung des Bundesgerichtshofes entgegen. Danach besteht kein Erfahrungssatz für eine Vorfahrtsverletzung, wenn ein Wartepflichtiger nach rechts in eine Vorfahrtsstraße einbiegt und dabei auf der rechten Fahrbahnseite gegen einen von rechts kommenden und im Überholen begriffenen Verkehrsteilnehmer stößt. Im Hinblick darauf, daß der Wartepflichtige bei einer solchen Fallgestaltung keine Vorfahrtsverletzung begeht, wenn keine Anzeichen dafür sprechen, daß eines der sich auf der Vorfahrtstraße nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechselt, und auch das Vorhandensein solcher Anzeichen nicht sachverhaltstypisch ist, spricht nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kein erster Anschein für eine Vorfahrtsverletzung als Ursache für den Zusammenstoß (vgl. auch OLG Köln VersR 1992, 68).
Diese Fallgestaltung liegt hier nicht vor. Der Beklagte zu 1) ist, wie er in der Klageerwiderung zugestanden hat, wenn auch nur geringfügig, nach seinem Vortrag keinesfalls mehr als 30 cm auf die Gegenfahr...