Entscheidungsstichwort (Thema)
Sicherungsaufklärung bei drohender hypertoner Dehydration eines Säuglings
Leitsatz (amtlich)
1. Ist die Gefahr einer hypertonen Dehydration eines Säuglings nicht zuverlässig auszuschließen, muss der behandelnde Kinderarzt eine sofortige Einweisung in ein Krankenhaus veranlassen.
2. Der Umfang der Flüssigkeitsaufnahme eines unter Brechdurchfall leidenden Säuglings ist dokumentationspflichtig.
3. Für die Befolgung des Rates durch die Mutter eines an Brechdurchfall leidenden Säuglings, ein Krankenhaus aufzusuchen, spricht eine tatsächliche Vermutung.
4. Das Unterlassen einer Klinikeinweisung bei drohender hypertoner Dehydration stellt einen groben Behandlungsfehler dar.
5. Ein niedergelassener Kinderarzt darf bei Erkrankung eines Säuglings mit Brechdurchfall seinen Angestellten grundsätzlich nicht das Ausfüllen eines blanko unterschriebenen Folgerezepts überlassen.
6. Die gebotene Sicherungsaufklärung (hier hinsichtlich der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Krankenhauseinweisung) muss in verständlicher Art und Weise erfolgen. Der bloße Hinweis an die medizinisch nicht vorgebildete Mutter eines an Brechdurchfall erkrankten Säuglings, es könne "eine Verschiebung der Salze eintreten, die mit dem Leben nicht vereinbar" sei, erfüllt diese Anforderungen nicht.
Normenkette
BGB §§ 280, 611, 823
Verfahrensgang
LG Köln (Urteil vom 12.11.2008; Aktenzeichen 25 O 263/06) |
Tenor
Die Berufung des Beklagten zu 1) gegen das am 12.11.2008 verkündete Grund- und Teilurteil der 25. Zivilkammer des LG Köln - 25 O 263/06 - wird zurückgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 12.11.2008 verkündete Grund- und Teilurteil der 25. Zivilkammer des LG Köln - 25 O 263/06 - im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Klage abgewiesen worden ist.
Die Klage ist in den Anträgen zu 1) und 2) gegenüber beiden Beklagten dem Grunde nach gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche künftigen immateriellen sowie alle materiellen Ansprüche, die ihr infolge der fehlerhaften Behandlung im April 2003 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Soweit der Senat die gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hat, wird die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Bei der am 8.8.2002 geborenen Klägerin traten am Ostermontag, dem 21.4.2003, Erbrechen und Durchfall auf. Sie wurde von ihrer Mutter nach 23.00 Uhr in der Ambulanz der V L vorgestellt. Der Arzt Dr. M diagnostizierte nach körperlicher Untersuchung sowie einer Bestimmung der Blutgase und der Serumelektrolytkonzentration, die normale Werte ergab, einen Magen-Darm-Infekt und verordnete InfectoDiarrstop (Elektrolytlösung) und Perenterol sowie die Gabe von Tee. Bei Verschlechterung sollte eine Wiedervorstellung erfolgen. Die Mutter der Klägerin suchte am 22.4.2002 mit ihrem Kind vormittags den Beklagten zu 1), einen niedergelassenen Kinderarzt, auf, übergab den Arztbericht von Dr. M und berichtete ausweislich der Dokumentation des Beklagten zu 1) Folgendes: "Seit gestern Erbrechen, hält nichts bei sich, gestern 2 mal Durchfall, heute noch kein Durchfall aber schon erbrochen, kein Fieber." Nach körperlicher Untersuchung injezierte und verordnete der Beklagte zu 1) Vomex und Paspertin. Ferner händigte er der Mutter der Klägerin ein von ihm verfasstes Merkblatt über den Magen-Darm-Infekt bei Säuglingen und Kleinkindern aus. Am Vormittag des 24.4.2003 übergab eine Helferin des Beklagten zu 1) der Mutter der Klägerin ein Wiederholungsrezept, das sich auf die bereits von Dr. M verordneten Medikamente bezog.
Am 24.4.2003 nach 16.00 Uhr brachte die Mutter der Klägerin, die wie bei den vorausgegangenen Arztbesuchen von der Großmutter begleitet wurde, die Klägerin in die Praxis der Beklagten zu 2), einer Kinderärztin. In der Karteikarte sind "Magen-Darm-Virus", die Anamnese, insbesondere dass das Kind jetzt nicht trinke, und der Befund der Untersuchung vermerkt. Darauf folgt die Eintragung: "Versuch m. strenger Diät z.B. Tee, HN [Heilnahrung] mind 700 - 1000 ml bis abends, sonst Klinik, Aufklärung über die Notwendigkeit KH, Oma meint bei ihr würde Kind gut trinken, E mündlich abgelehnt." Am Morgen des 25.4.2003 fanden zwei Telefonate zwischen der Mutter der Klägerin und der Beklagten zu 2) statt, deren genauer Inhalt streitig ist. In der Karteikarte der Beklagten zu 2) ist zu den beiden Gesprächen als erteilter Hinweis vermerkt: " (...) Klinik oder zumindest Wv Arzt" und "sofort Klinik oder Wv".
Am Vormittag des 25.4.2003 suchte die Mutter der Klägerin die Universitätskinderklink L mit ihrem Kind auf. Die Klägerin wurde jedenfalls ab 10.40 Uhr auf der Intensivstation behandelt...