Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsanwendung bei Kfz-Unfall auf Betriebsgelände – „Radlader hat Vorfahrt”

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die bei der Führung von Kraftfahrzeugen im nicht öffentlichen Verkehr zu beachtenden Sorgfaltspflichten richten sich maßgeblich nach den Anforderungen der Verkehrslage und den jeweiligen örtlichen Verhältnissen. Je deutlicher die Funktion der Verkehrsfläche (hier: sog. Boxengasse eines Asphaltmischwerks) als Arbeitsbereich und der Einsatz eines Kraftfahrzeugs (hier: Radlader) als Arbeitsmaschine im Vordergrund stehen, um so mehr treten Verhaltensregeln zurück, die dem „fließenden Verkehr” Vorrang einräumen.

2. Auf einem Betriebsgelände, dessen Verkehrsfläche auf die Benutzung durch einen ganz bestimmten, fest umrissenen Personenkreis beschränkt ist, der in einer individualisierbaren Beziehung zum Verfügungsberechtigten steht (nicht öffentlicher Verkehr im engeren Sinne), können von der STVO abweichende Verkehrsregelungen getroffen werden, die dann bei der zivilrechtlichen Beurteilung von Schadensfällen zu berücksichtigen sind (hier: „Radlader hat Vorfahrt”).

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17-18; StVO §§ 1, 9 Abs. 5

 

Verfahrensgang

LG Aachen (Aktenzeichen 10 O 476/00)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers und der Widerbeklagten zu 2) und 3. gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Aachen vom 3.5.2001 – 10 O 476/00 – wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten beider Instanzen werden wie folgt verteilt:

Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) trägt der Kläger zu 83 % allein und zu weiteren 17 % als Gesamtschuldner mit den Widerbeklagten zu 2) und 3.

Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen der Kläger und die Widerbeklagten zu 2) und 3. selbst.

Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) und 3. trägt der Kläger.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

Die Berufung des Klägers und der Widerbeklagten zu 2) und 3) bleibt erfolglos. Das LG hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen und der Widerklage der Beklagten zu 1) bis auf eine geringfügige Kürzung im Zinsausspruch stattgegeben. In Übereinstimmung mit dem LG kommt auch der Senat in Abwägung der feststehenden unfallursächlichen Umstände gem. §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG zu einer Alleinhaftung des Klägers und der Widerbeklagten. Die Angriffe der Berufung geben dem Senat keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung:

1. Das LG hat das Unfallereignis in der sog. Boxengasse – ein Weg, zu dessen beiden Seiten sich Materialboxen befinden – auf dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1), die dort eine Produktionsstätte für Baustoffe betreibt (Mischwerk), zu Recht nicht nach den Vorschriften der StVO, sondern nach den Besonderheiten der gegebenen örtlichen Verhältnisse und der diesen Verhältnissen Rechnung tragenden Vorfahrtsregelung durch die Beklagte zu 1) beurteilt. Die Vorschriften der StVO finden hier weder unmittelbare noch entsprechende Anwendung.

a) Für die Frage, ob und in welcher Weise die Vorschriften der StVO auf nicht öffentliche Verkehrsflächen entsprechend anzuwenden sind, ist zunächst zu unterscheiden, ob „faktische Öffentlichkeit” vorliegt, d.h. die betreffende Verkehrsfläche zwar nicht notwendig jedermann, aber einem weitgehend unbestimmten Personenkreis offen steht (wie z.B. auf einem Baumarkt, einem Großmarktgelände, Firmenparkplätzen, Werksgelände mit Publikumsverkehr), oder ob die Benutzung der Verkehrsfläche auf einen ganz bestimmten, fest umrissenen Personenkreis beschränkt ist, der in einer individualisierbaren Beziehung zum Verfügungsberechtigten steht (nicht öffentlicher Verkehr im engeren Sinne). Das Produktionsgelände der Beklagten zu 1) gehört in die letztgenannte Kategorie. Denn der externe Verkehr auf dem Gelände wird von einer begrenzten Anzahl gewerblicher Anlieferer des Produktionsmaterials und/oder Abholer der Mischprodukte geprägt, deren Fahrer mit den dortigen Verhältnissen bestens vertraut sind (so befand sich auch der Widerbeklagte zu 2) mit dem LKW des Klägers allein am Unfalltag bereits zum achten Mal dort). Publikumsverkehr wie auf einem Baumarkt (hierzu verhält sich die von der Berufung angeführte Entscheidung des OLG Köln v. 6.8.1986 – 13 U 55/86, VersR 1988, 194 = DAR 1988, 163 = VRS 1988, Bd. 74, S. 249) findet dort nicht statt. Allein durch eine hohe Verkehrsfrequenz – nach der Darstellung des Klägers ca. 80 LKWs täglich – wird kein „allgemeiner Verkehr” eröffnet, wie der Kläger meint. Zwar mögen auch auf Werksstraßen, die keinem tatsächlich öffentlichen Verkehr dienen, nach Maßgabe der jeweiligen Verhältnisse einzelne Regeln der StVO entsprechende Anwendung finden, wenn von dem Verfügungsberechtigten nichts anderes bestimmt ist (oder er sogar Verkehrszeichen nach dem Muster der Anlage zur StVO angebracht hat; hierzu verhält sich die Entscheidung des OLG Köln v. 23.6.1993 – 13 U 59/93, OLGReport Köln 1993, 306). Dem Verfügungsberechtigten bleibt es jedoch unbenommen, von der StVO abweichende Verkehrsregelungen zu treffen, die ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?