Beidseitige Fahrbahnverengung: Was Autofahrer beachten müssen
Auf einer zweispurigen Fahrbahn fuhren eine Autofahrerin und ein Lastwagenfahrer innerorts nebeneinander. Nach einer Ampel wies ein Verkehrsschild (Gefahrenzeichen 120) auf eine kommende beidseitige Fahrbahnverengung hin.
Der auf der linken Spur fahrende Lkw-Fahrer zog nach rechts und kollidierte mit der Autofahrerin, die er nicht gesehen hatte. Vor Gericht musste die Haftungsfrage geklärt werden.
Die Haftpflichtversicherung des Lkw-Fahrers hatte vorgerichtlich den Schaden auf Grundlage einer Haftungsquote von 50:50 reguliert. Die Autofahrerin wollte den Schaden zu 100 Prozent ersetzt bekommen.
Unfall war nicht unvermeidbar
Das Berufungsgericht war der Auffassung gewesen, dass der Unfall für die Autofahrerin nicht unvermeidbar war. Die notwendige Haftungsverteilung (§ 17 Abs. 2, Abs. 1, § 18 Abs. 3 StVG) sei maßgeblich auf der Grundlage des allgemeinen Rücksichtnahmegebots aus § 1 StVO zu bemessen.
Durchgehender Fahrstreifen hat keinen Vorrang bei beidseitiger Fahrbahnverengung
Anders als beim Zeichen 121 („einseitig verengte Fahrbahn“) ende nicht einer der beiden Fahrstreifen. Deshalb könne nicht vom Vorrang des durchgehenden Fahrstreifens ausgegangen werden. Das Reißverschlussverfahren (§ 7 Abs. 4 StVO) finde ebenfalls keine Anwendung.
Der BGH hat diese Auffassung bestätigt. Das Durchfahren der Engstelle sei nicht mit einem Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO verbunden. Die in der Verengung liegende und durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führe zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer im Sinne der § § 1 und 3 Abs. 1 StVO.
Keine Vorfahrt für rechts fahrendes Fahrzeug
Insbesondere hat das rechts fahrende Fahrzeug keinen regelhaften Vortritt, so der BGH:
- Das Gefahrenzeichen 120 enthalte keine derartige Vorrangregelung.
- Die Fahrzeugführer müssen sich deshalb unter gegenseitiger Rücksichtnahme (§1 StVO) darüber verständigen, wer als Erster in die Engstelle einfahren darf.
- Gelingt die Verständigung nicht, sind die Fahrzeugführer dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen.
Beide Fahrer haben gegen Pflicht zur erhöhten Rücksichtnahme verstoßen
Im vorliegenden Fall habe sowohl der Lkw-Fahrer als auch die Pkw-Fahrerin gegen die Pflicht zur erhöhten Rücksichtnahme verstoßen.
Unfallbeteiligte haften jeweils zur Hälfte
Der Lkw-Fahrer war nicht aufmerksam genug gewesen und habe die Autofahrerin übersehen. Die rechts fahrende Autofahrerin trifft ebenfalls ein Mitverschulden. Sie sei zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass sie Vorfahrt habe und habe sorgfaltswidrig darauf vertraut, dass sich der Lkw-Fahrer hinter ihr in die rechte Spur einfädeln werde. Die hälftige Haftungsverteilung sei nicht zu beanstanden.
(BGH, Urteil v. 8.3.2022, VI ZR 47/21)
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