Leitsatz (amtlich)
1. Eine Bindung des Berufungsgerichts an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO entfällt nur, soweit diese Feststellungen offensichtlich lückenhaft, widersprüchlich oder unzutreffend sind und somit fassbare Einzelumstände Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit wecken. Ob konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen vorliegen, hat das Berufungsgericht von Amts wegen zu prüfen.
2. In Fällen des mehrspurigen parallelen Abbiegens werden das Recht der freien Fahrstreifenwahl des am weitesten rechts eingeordneten Abbiegers und das Rechtsfahrgebot durch das Gebot, die Spur zu halten, ersetzt. Es darf in mehreren Reihen nebeneinander gefahren werden, ohne zu überholen oder sich stets vor dem weiter rechts Fahrenden einordnen zu müssen. Dies gilt auch dann, wenn der in zweiter Reihe nach rechts Abbiegende einem entsprechenden Richtungspfeil folgen darf, er aber auch geradeaus weiterfahren dürfte.
3. Bei der Berechnung des Wiederbeschaffungsaufwandes sind grundsätzlich die Bruttowerte von Wiederbeschaffungswert und Restwert miteinander zu vergleichen. Ist der Geschädigte vorsteuerabzugsberechtigt, sind die Nettowerte als Vergleichsmaßstab heranzuziehen.
Normenkette
StVG §§ 9, 17 Abs. 1-2; StVO § 7 Abs. 5; BGB §§ 249, 254; ZPO § 259 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 09.08.2017; Aktenzeichen 20 O 809/17) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers vom 31.08.2017, eingegangen am 06.09.2017, wird das Endurteil des LG München I vom 09.08.2017 wie folgt abgeändert:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag von 5.431,25 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.07.2015, sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 480,20 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.01.2017 zu bezahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz zu tragen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache nahezu uneingeschränkt Erfolg.
I. Das Landgericht ist davon ausgegangen (EU 2/3 = Bl. 42/43 d. A.), dass der Kläger für den Verkehrsunfall vom 24.05.2015 gegen 15.00 Uhr an der Kreuzung der O.straße mit der P.straße keinen Schadensersatz verlangen könne, weil er selbst die Schäden jedenfalls ganz überwiegend verursacht und mitverschuldet habe (§§ 17 I, II, 9 StVG, 254 I BGB), so dass der Verursachungsbeitrag und (fehlende) Verschuldensanteil des Beklagtenfahrzeugs zu vernachlässigen seien (BGH NJW-RR 2007, 1077; Senat, Urt. v. 13.11.2015 - 10 U 3964/14 [juris]; Urt. v. 12.06.2015 - 10 U 3673/14 [juris], jeweils m.w.N.).
Dieses Entscheidungsergebnis erweist sich hinsichtlich der rechtlichen Bewertung der die Unfallbeteiligten treffenden straßenverkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten als weder zutreffend, noch überzeugend begründet, ohne dass eine erneute Beweisaufnahme durch den Senat notwendig gewesen wäre. Die notwendige Richtigstellung bringt zu Tage, dass der Kläger wegen einer Verkehrslage bei "mehrspurigem parallelen Abbiegen" (BGH NZV 2007, 185) auf der von ihm gewählten Linksabbiegespur Vorrang hatte. Dagegen ist dem Fahrer des Beklagtenfahrzeugs ein Verstoß gegen die Gefahrvermeidungspflicht beim Spurwechsel (§ 7 V StVO) unterlaufen, deswegen hat der Kläger gegen den Beklagten Anspruch auf Schadensersatz in voller Höhe, einschließlich Zinsen und verzinster vorgerichtlich entstandenen Anwaltskosten, mit Ausnahme der auf letztere entfallenden Umsatzsteuer.
1. Der Senat ist an die entscheidungserheblichen tatsächlichen Feststellungen (s. Senat, Urt. v. 24.01.2014 - 10 U 1673/13 [juris, Rz. 16]) nach § 529 I Nr. 1 ZPO gebunden, weil keinerlei konkrete Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit vorgetragen oder ersichtlich wurden. Eine Bindung für das weitere Verfahren entfiele nur dann, wenn und soweit diese Feststellungen offensichtlich lückenhaft, widersprüchlich oder unzutreffend wären (BGH NJW 2005, 1583, 1585), und somit fassbare Einzelumstände Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit wecken würden (BGH r + s 2003, 522). Solche Anhaltspunkte ergeben sich weder aus Berufungsrügen des Klägers noch aus der Berufungserwiderung des Beklagten, die solche Umstände nicht geltend machen wollen. Auch eine vom Senat von Amts wegen vorgenommene (so BGH [V. ZS] NJW 2004, 1876; [VI. ZS] NJW 2014, 2797) Überprüfung offenbart insoweit keine Mängel des Ersturteils.
Hinsichtlich einzelner Gesichtspunkte der Schadensberechnung hat der Beklagte auf die Hinweise des Senats (v....