Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterliche Überzeugungsbildung bei Primär- und Sekundärverletzung
Normenkette
ZPO § 286
Verfahrensgang
LG Deggendorf (Urteil vom 24.02.2010; Aktenzeichen 2 O 215/08) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers vom 25.3.2010 wird das Endurteil des LG Deggendorf vom 24.2.2010 (Az. 2 O 215/08) samt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren - mit Ausnahme der biomechanischen Begutachtung durch Dipl.-Ing. R. - aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Deggendorf zurückverwiesen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG Deggendorf vorbehalten.
Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Der Kläger macht gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 6.000 EUR nebst Zinsen aus einem Verkehrsunfall am 19.4.2007 auf der Passauer Straße in P. geltend und begehrt darüber hinaus die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung künftiger materieller und immaterieller Schäden aus dem Unfallgeschehen. Die Alleinhaftung der Beklagten ist unstreitig; die Parteien streiten sich lediglich über die Verletzungsfolgen und das hierfür angemessene Schmerzensgeld. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 24.2.2010 (Bl. 105/110 d.A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
Das LG Deggendorf hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen.
Hinsichtlich der Erwägungen des LG wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses den Klägervertreter am 26.2.2010 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem beim OLG München am 25.3. eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt (Bl. 117/118 d.A.) und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 26.5.2010 mit einem beim OLG München am 25.5.2010 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 123/128 d.A.) begründet.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Antrag erster Instanz zu erkennen, hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht des 1. Rechtszuges zurückzuverweisen
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 9.6.2010 (Bl. 129/132 d.A.), die Replik vom 9.9.2010 (Bl. 134/135 d.A.), den Hinweis des Senats vom 1.7.2010 (Bl. 133 d.A.) und die Sitzungsniederschrift vom 1.10.2010 (Bl. 136/139 d.A.) Bezug genommen.
B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
I. Das LG hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht Ansprüche des Klägers verneint. Das Erstgericht hat eine unzureichende Beweisaufnahme durchgeführt und eine wenig überzeugende Beweiswürdigung vorgelegt.
1. Die Gründe des angefochtenen Urteils lassen nicht erkennen, ob der Erstrichter die Unterscheidung zwischen Primär- (HWS-Distorsion) und Sekundärverletzung (Tinnitus) und das sich hieraus ergebende unterschiedliche Beweismaß beachtet hat. Der Erstrichter hätte im Rahmen seiner Beweiswürdigung für die Prüfung der HWS-Distorsion das Beweismaß des § 286 ZPO zugrundelegen müssen, während im Falle des Nachweises einer Primärverletzung für die Prüfung des Tinnitusses das Beweismaß des § 287 ZPO genügt hätte.
Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; OLG München NZV 2006, 261; Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.6.2010 - 10 U 2282/10) - absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39 [40] und zuletzt VersR 2007, 1429 [1431 unter II 2]; Senat, a.a.O.).
Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich BGH VersR 1970, 924 [926 f.]; NJW 1994, 3295 ff.; 2003, 1116 [1117]; 2004, 777 [778]; OLG München NZV 2006, 261 [262]; r+s 2006, 474 m. zust. Anm. von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 - VI ZR 29/07 zurückgewiesen], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 19.3.2010 - 10 U 3870/09). § ...