Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung, Beschwerde, Zustellung, Wiedereinsetzung, Verletzung, Zwangsvollstreckung, Einspruch, Einspruchsfrist, Verfahren, Notfrist, Anfechtung, Verschulden, Frist, Einstellung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Einstellung der Zwangsvollstreckung, sofortige Beschwerde

 

Verfahrensgang

LG München I (Urteil vom 20.04.2020; Aktenzeichen 12 HK O 21624/16)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 20.04.2020, Az. 12 HK O 21624/16, aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht zurückverwiesen.

2. Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Rechtmäßigkeit der Verwerfung des Einspruchs der Beklagten gegen ein öffentlich zugestelltes Versäumnisurteil als unzulässig bei gleichzeitiger Versagung der Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist nach ebenfalls öffentlich zugestellter Klage.

In der Sache begehrt die Klägerin von der Beklagten - der Lieferantin der Klägerin - Geldzahlung über insgesamt 159.416,17 EUR aus einer sog. Offenen-Posten-Rechnung (86.312,41 EUR), aus Credit Notes (17.963,24 EUR) und wegen Marketing- bzw. Werbungskostenzuschüssen (55.141,06 EUR).

Vorgerichtlicher geschäftlicher Schriftverkehr aus der Rechtsbeziehung zwischen den Parteien wurde (zumindest auch) über Personen unter der Adresse ..., M. abgewickelt (vgl. Anlage K3). Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte an dieser Anschrift eine Niederlassung innehat oder ob es sich ausschließlich um den Sitz der H. C. W. GmbH handelt.

Mit Schriftsatz vom 20.12.2016 erhob die Klägerin Klage über den Hauptsachebetrag nebst gestaffelten Zinsen. Nach mehreren Hinweisen des Gerichts beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 23.05.2017 (Bl. 30 d.A.):

Die Beklagtenpartei wird verurteilt an die Klägerin Euro 159.416,71 nebst Zinsen in Höhe von 8-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu bezahlen.

Zwei Zustellversuche im Rechtshilfeweg gemäß Kapitel II Abschnitt 1 der Europäischen Zustellungsverordnung (EuZVO) unter der von der Klägerin in der Klageschrift angegebenen, schon damals veralteten i. Adresse: ... blieben erfolglos. Mit Schriftsatz vom 28.08.2017 (Bl. 37 d.A.) teilte die Klägerin die ihr aus Schriftwechseln bekannte (Anlage K9) aktuellere Anschrift ... mit. Das Landgericht unternahm einen erneuten Zustellungsversuch mittels Einschreiben mit Rückschein. In den Rücklauf des Landgerichts gelangte am 02.10.2017 der Briefumschlag, auf dem die i. Post die Annahmeverweigerung ("Refused") vermerkt hatte, die seitens des Zustellungsempfängers nicht ausgefüllte Belehrung über das Annahmeverweigerungsrecht gemäß Art. 8 EuZVO mit dem deutschsprachigen Anschreiben des Landgerichts, nicht aber der sonstige Inhalt des Umschlags. Einige Tage später, am 10.10.2017, gelangte der nur mit Unterschrift, aber ohne Datum versehene Rückschein in den Posteingang. Zu näheren Einzelheiten wird auf Rechtshilfeheft 152/18 (355/17) Bezug genommen. Das Landgericht ging wegen der widersprüchlichen Angaben nicht von einer wirksamen Zustellung aus und ordnete erneut das schriftliche Vorverfahren mit einer Notfrist zur Verteidigungsanzeige von einem Monat nebst Zustellung im Rechtshilfeweg an (Verfügung vom 19.12.2017, Bl. 42ff. d.A.). Auch diese blieb erfolglos ("gone away"). Das Anschreiben der i. Behörde weist als Adresse allerdings die ... aus. Zu näheren Einzelheiten wird auf das Rechtshilfeheft 152/18 Bezug genommen.

Die Klägerin beantragte daraufhin öffentliche Zustellung. Die Klägerin teilte mit, dass ihr weitere Anschriften nicht bekannt seien. Die vormalige Homepage der Beklagten sei nicht mehr erreichbar. Alle verfügbaren Auskunftsdatenbanken wiesen nur eine der bereits erfolglos versuchten Zustellanschriften aus. Die Klägerin habe versucht, über andere Konzerngesellschaften, Kontakt aufzunehmen. Auch dort sei die Beklagte "von heute auf morgen" verschwunden. Auf den Schriftsatz vom 17.07.2018 (Bl. 53ff. d.A.) wird Bezug genommen.

Das Landgericht ordnete mit Beschluss vom 23.07.2018 die öffentliche Zustellung der Verfügung zum schriftlichen Vorverfahren vom 19.12.2017 an (Bl. 56 d.A.). Die Bekanntmachung wurde an der Gerichtstafel am 24.07.2018 angeheftet und von ihr am 27.08.2018 abgenommen (hinter Bl. 58 d.A.). Am 30.08.2018 erging über EUR 159.416,71 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 10.10.2017 (durch die Referatsvertreterin) begründetes Versäumnisurteil. Die Einspruchsfrist wurde in den Urteilsgründen auf einen Monat festgesetzt (die Rechtsbehelfsbelehrung nennt allerdings die Frist von zwei Wochen). Die öffentliche Zustellung des Versäumnisurteils wurde durch Beschluss vom selben Tag angeordnet. Der Aushang an der Gerichtstafel erfolgte am 31.08.2018; abgenommen wurde er am ...

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