Entscheidungsstichwort (Thema)
Schadensersatz, Arzt, Behandlungsfehler, Rente, Schmerzensgeld, Berufung, Gutachten, Haftpflichtversicherer, Rechtsanwaltskosten, Krankenhaus, Merkzeichen, Haftpflichtversicherung, GdB, Absenkung, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Treu und Glauben, Ermessen des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Schon eine bloße Mitverursachung reicht aus, um einen Ursachenzusammenhang zu bejahen (wie BGH, Urteil vom 19. 04. 2005 - VI ZR 175/04 -, VersR 2005, 945, Urteil vom 05. 04. 2005 - VI ZR 216/03 -, Rn. 14, VersR 2005, 942).
2. Ein eindeutiger, fundamentaler Verstoß gegen eine interne Regelung der Klinik, die zum Schutz der Patienten eine zeitnahe ärztliche Befundung erhobener Befunde gewährleisten soll (hier: unverzügliche Vorlage eines ohne ärztliche Anweisung geschriebenen EKGs in die Patientenakte), die einer Pflegekraft schlechterdings nicht unterlaufen darf, führt zur Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität.
3. Auf die zeitnah unterbliebene Vorlage des EKGs in die Patientenakte sind die Grundsätze über den Befunderhebungsfehler entsprechend heranzuziehen.
4. Schmerzensgeld von 225.000,00 EUR bei einer hypoxischen Hirnschädigung einer 43-jährigen Frau
Normenkette
BGB §§ 278, 611, 630 h, 823 Abs. 1, §§ 831, 842-843, 845
Verfahrensgang
LG Kempten (Urteil vom 28.02.2019; Aktenzeichen 32 O 1228/12) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin zu 1) wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 28.02.2019, Az. 32 O 1228/12, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) ein weiteres Schmerzensgeld von 75.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 225.000,00 EUR seit dem 20.04.2010 bis zum 26.01.2011, aus 125.000,00 EUR seit dem 27.01.2011 bis zum 10.07.2011, aus 100.000,00 EUR seit dem 11.07.2011 bis zum 09.01.2012 sowie aus 75.000,00 EUR seit dem 10.01.2012 zu bezahlen.
2. Hinsichtlich der Berufungsanträge III., IV. und VIII. ist die Klage der Klägerin zu 1) dem Grunde nach gerechtfertigt.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) jeglichen weiteren, ihr aus der streitgegenständlichen ärztlichen Falschbehandlung am 08.08.2008 zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeht / übergegangen ist.
II. Die Berufung des Klägers zu 2) wird zurückgewiesen.
III. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zu 2) Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Kläger machen gegen die Beklagte Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen einer behaupteten ärztlichen Fehlbehandlung der Klägerin zu 1) im Krankenhaus ... der Beklagten vom 07. - 09.08.2008 geltend.
Die am 09.05.1965 geborene Klägerin zu 1) (im Folgenden: die Klägerin) wurde am 07.08.2008 um 17:30 Uhr wegen einer hypertensiven Entgleisung (Blutdruck 230/100 mmHG, Herzfrequenz 125/min) durch den Notarzt ins Krankenhaus ... eingeliefert, dessen Trägerin die Beklagte ist. Sie wurde mit der Diagnose hypertensive Entgleisung im Zusammenhang mit C2-Entzug in der interdisziplinären Intensivstation aufgenommen. Dort wurde um 17:36 Uhr ein 12-KanalRuhe-EKG angefertigt. Aufgrund der Medikation durch den Notarzt waren der Blutdruck auf 150/90 mmHG und die Herzfrequenz auf 104 Schläge pro Minute gefallen. Das EKG zeigte in der Ableitung V5 ein korrigiertes QT-Intervall von 0,39 Sekunden.
Die Therapie der Alkoholentzugssymptomatik erfolgte durch das Medikament Clonidin (Catapresan P) intravenös über Perfusor und zusätzliche Gabe eines Benzodiazepins unter Monitorüberwachung. Auf dem Therapieplan der Intensivstation findet sich ferner die Verordnung des Medikaments Aponal mit dem Wirkstoff Doxepin. Dieses Medikament wurde ausweislich des Therapieplans am Abend des 07.08.2008 der Klägerin noch nicht verabreicht.
Unter Verabreichung des Medikaments Clonidin ergab sich in der Nacht vom 07.08.2008 auf den 08.08.2008 eine allmähliche Absenkung des erhöhten Blutdrucks der Klägerin. Gleichzeitig kam es zu einer Verlangsamung des Pulsschlags der Klägerin. Weil der Puls bis auf 57 Schläge pro Minute gefallen war, wurde die Gabe von Clonidin um 02:00 Uhr beendet. Anschließend fiel der Pulsschlag kurzzeitig auf ca. 44 Schläge, stabilisierte sich dann aber bei etwa 72 Schlägen pro Minute.
Am Morgen des 08.08.2008 um 07:06 Uhr wurde erneut ein 12-Kanal-Ruhe-EKG der Klägerin angefertigt. Dieses zeigt ein deutlich verlängertes korrigiertes QT-Intervall der Klägerin von 0,62 Sekunden. Dieser Wert liegt außerhalb der Norm und hatte - was zwischen den Parteien unstreitig ist - zur Folge, dass die Kläger...