Entscheidungsstichwort (Thema)
Arrestanordnung im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen des Arrestverfahrens genügt es nach § 294 ZPO für die Glaubhaftmachung einer Behauptung, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. An die Stelle des Vollbeweises tritt eine Wahrscheinlichkeitsfeststellung.
2. Die erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung kann sich auch aus der Vorlage einer hinreichend substantiierten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft jedenfalls dann ergeben, wenn aufgrund dieses Tatvorwurfs ein Haftbefehl gegen den Arrestbeklagten erlassen und somit ein dringender Tatverdacht bejaht wurde.
3. Zu den Schlüssigkeitsvoraussetzungen für die Höhe des Anspruchs bei einer Saldoklage über zahlreiche Kauf- und Verkaufsvorgänge.
4. Jedenfalls beim Kauf von Aktien spricht grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz mit überwiegenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften nicht gekauft hätten. Ob das auch für Investments mit rein spekulativem Charakter gilt, kann hier dahinstehen (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 16.11.2021, Gz. 8 W 1541/21).
5. Ein Arrestgrund kann nicht allein mit der Begründung verneint werden, dass sich ein Arrestbeklagter seit längerem in Untersuchungshaft befindet.
6. Die Beschlagnahme nach § 111b StPO oder der Vermögensarrest nach § 111e StPO beseitigen den Arrestgrund nicht. § 111h Abs. 2 Satz 1 StPO hindert grundsätzlich nur eine Vollstreckung des Arrests in die sichergestellten Vermögenswerte. Ob dies anders - z.B. im Sinne eines Rechtsmissbrauchs - zu beurteilen wäre, wenn ein Antragsteller wiederholt Arrestanträge gleichsam "ins Blaue" stellt ohne jede Aussicht auf eine zulässige Pfändung, kann derzeit offen bleiben.
Normenkette
BGB §§ 249, 826; StPO § 111h Abs. 2; ZPO §§ 294, 916 ff.
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 08.07.2021; Aktenzeichen 27 O 8211/21) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Arrestklägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 08.07.2021, Az. 27 O 8211/21, aufgehoben.
2. Wegen einer Schadensersatzforderung der Arrest- und Berufungsklägerin gegen den Arrest- und Berufungsbeklagten i.H.v. 12.014,44 EUR wird der dingliche Arrest in dessen gesamtes persönliches Vermögen angeordnet.
3. Die Vollziehung des Arrestes wird durch Hinterlegung von 12.014,44 EUR durch den Arrestbeklagten gehemmt.
4. Die Entscheidung über den Antrag auf Forderungspfändung obliegt dem Landgericht München I. 5. Der Arrestbeklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Zur näheren Darstellung wird sowohl bezüglich des Sachverhaltes als auch bezüglich der erstinstanzlichen Prozessgeschichte auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Ergänzend und zusammenfassend ist folgendes auszuführen:
Mit Schriftsatz vom 17.06.2021 beantragte die Arrestklägerin den Erlass eines dinglichen Arrestes gegen den Arrestbeklagten. Ihr stehe gegen diesen eine Schadensersatzforderung i.H.v. 12.014,44 EUR zu. Der Arrestbeklagte als Vorstandsvorsitzender der W. AG habe mit weiteren Mittätern bandenmäßigen Betrug und Fälschung der Geschäftsbilanzen seit mindestens 2015 sowie Marktmanipulation begangen. Die W. AG habe dadurch finanzkräftiger und für Investoren und Kunden attraktiver dargestellt werden sollen, um so regelmäßig Kredite von Banken und sonstigen Investoren zu erlangen und daraus fortwährend eigene Einkünfte zu generieren. Tatsächlich sei dem Arrestbeklagten jedoch klar gewesen, dass der Wirecard Konzern Verluste erziele. Zur Glaubhaftmachung nahm die Arrestklägerin u.a. auf eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft München I vom 22.07.2020 Bezug. Der Arrestbeklagte befindet sich aufgrund dieser Vorwürfe seit 22.07.2020 in Untersuchungshaft.
Die Arrestklägerin habe in der Zeit vom 28.04.2020 bis 15.07.2020 insgesamt 12.014,44 EUR in die Aktie der W. AG investiert, wie durch Vorlage der Orderbelege glaubhaft gemacht. Bei Kenntnis der tatsächlichen Umstände hätte sie die Aktienanteile niemals erworben. Ein Arrestgrund liege vor, da die Vollstreckung eines Schadensersatzanspruches gegen den Arrestbeklagten aufgrund seiner österreichischen Staatsbürgerschaft und der zahlreichen Immobilien, welche dieser im Ausland besitze, wesentlich erschwert würde.
Mit Endurteil vom 08.07.2021 wies das Landgericht München I den Antrag auf Erlass eines Arrest- und Arrestpfändungsbeschlusses zurück, weil angesichts der Untersuchungshaft des Beklagten kein Arrestgrund bestehe. Dieses Endurteil wurde dem anwaltlichen Vertreter der Arrestklägerin am 20.07.2021 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 11.08.2021, eingegangen am 18.08.2021, legte die Arrestklägerin gegen das Endurteil des Landgerichts München I Berufung ein und begründete diese zugleich.
Sie beantragt,
1. Das Endurteil des Landgerichts München I v...